Biomacht

Innerhalb des Machttypus* der Biomacht differenziert Foucault in „Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1“ (1976) zwischen den Disziplinen, die sich auf den Körper des Einzelnen richten und diesen disziplinieren, und der Biopolitik der Bevölkerung, d. h. der Regulierung des Bevölkerungskörpers mittels Hygiene, Geburtenkontrolle, Gesundheitspolitik etc. Das verbindende Element ist die Sexualität, da sie den Körper des Einzelnen mit dem Gattungskörper verbindet (Foucault 1976: 166, 174; Foucault 1975/76: 294 ff.). Der Machttypus Biomacht hat insofern das Leben als Gegenstand – den Körper des Einzelnen und das Leben der Bevölkerung: Hier geht es nicht um Unterdrückung, sondern um die Steigerung des Lebens, um „die sorgfältige Verwaltung der Körper und die rechnerische Planung des Lebens“ (Foucault 1976: 167). Foucault macht dabei ganz klar, dass die Biomacht nicht unabhängig von den Humanwissenschaften, aber vor allem nicht unabhängig vom Kapitalismus betrachtet werden kann. Sie ist „ein unerläßliches Element in der Entwicklung des Kapitalismus, der ohne kontrollierte Einschaltung der Körper in die Produktionsapparate und ohne Anpassung der Bevölkerungsphänomene an die ökonomischen Prozesse nicht möglich gewesen wäre“ (Foucault 1976: 168). D.h.: Der Kapitalismus brauchte Machtmethoden, um die Kräfte des Lebens zu steigern.
Die abendländische Moderne beginnt für Foucault damit, dass das Leben der Gattung in die Politik kam, er nennt das die „biologische Modernitätsschwelle“ (Foucault 1976: 170) und für ihn bedeutet das eine radikale Veränderung in der Ordnung des Politischen: Dass das Leben der Gattung in die Politik kam, ist daher nicht so zu interpretieren, dass es einen vorwegbestehenden Gegenstand namens Leben gibt, auf den sich Politik nun richtet. Leben ist ein konstituierter Gegenstand und ein Korrelat zu ganz bestimmten Machttechniken und Wissensweisen (Gehring 2004; Muhle 2008: 184, 239 ff.; Lorey 2007: 272 ff.; Lemke 2007b: 47 f.). Die Biomacht operiert nun nicht mehr mit der Drohung durch den Tod, sondern mit der Verantwortung für das Leben. Es geht hier nicht mehr darum, „auf dem Feld der Souveränität den Tod auszuspielen, sondern das Lebende in einem Bereich von Wert und Nutzen zu organisieren […]. Statt die Grenzlinie zu ziehen, die die gehorsamen Untertanen von den Feinden des Souveräns scheidet, richtet sie die Subjekte an der Norm aus, indem sie sie um diese herum anordnet“ (Foucault 1976: 171 f.). Die Norm der Regulierung wirkt dabei nicht über eine individuelle Dressur wie bei der Normierung der Disziplinen, sondern über flexiblere Kontrollen des Lebens, die auf die Sicherheit des Ganzen vor seinen inneren Gefahren zielen. Normalisierung hat es also nun auch mit flexibleren Normen zu tun und nicht mehr nur mit Normungen, wo eine Norm vorwegbesteht, an die angepasst wird (Foucault 1975/76: 294, 298 ff; Foucault 1977/78: 88 ff.). Neben der Statistik mit ihrem Wissen (Geburten- und Sterberaten, Gesundheitsverhältnisse etc.) war es die Medizin und die Hygiene, die eine herausragende Bedeutung innerhalb der Biomacht zugesprochen werden (Foucault 1976: 172; Foucault 1975/76: 303, 298). Der Körper der Gesellschaft muss nun auf gleichsam ärztliche Weise geschützt werden. Auf der epistemologischen Ebene entsprechen dem die ganzen Theorien der „Entartung“ und der „Degeneration“ des 19. Jahrhunderts, und es entsteht für Foucault ein neuer Rassismus, der zur Eugenik führte und im Nationalsozialismus gipfelte (Foucault 1974/75: 413 ff.; Foucault 1976: 142 ff.). Den Rassismus bestimmt Foucault als Verbindung von Souveränitätsmacht und Biomacht, weil der Rassismus ermöglicht, im Rahmen einer Biomacht zu töten, da er eine Scheidelinie einführt in das Leben zwischen dem, was lebenswert und lebensunwert ist, was leben soll und was sterben muss (Foucault 1975/76: 301). Zwar hat es im europäischen Denken Tradition, sich Kollektive als Körper vorzustellen (Koschorke/Lüdemann/Frank/de Mazza 2007, 11), aber nun ist der Gesellschaftskörper keine juristisch-politische Metapher mehr, sondern wird gleichsam biologisch. Der Anormale, die andere „Rasse“ ist kein politischer Gegner mehr, sondern eine biologische Gefahr für den Gesellschaftskörper (Foucault 1978a: 577; vgl. Esposito 2004: 189 ff.).
In Bezug auf das Thema Biomacht/Biopolitik im Anschluss an Foucault kann man mit Lemke zwei große Rezeptionslinien unterscheiden: Die eine Richtung behandelt vor allem das Thema des Politischen. Hier fragen Autoren wie Agamben, Hardt/Negri oder Esposito, was sich philosophisch für das Verhältnis von Leben und Politik ergibt. Die andere Rezeptionslinie – mit Autoren wie Haraway, Rabinow, Rose und Lemke – richtet die Analyseperspektive vor allem auf die Substanz des Lebens und die Lebenswissenschaften wie z. B. die Humangenetik (Lemke 2007b: 15 f.). In beiden Richtungen finden sich Kritiken an Foucault und vor allem auch Aktualisierungen. So zeigen z. B. Rose, Rabinow und Lemke, dass in neoliberalen Gesellschaften der Jetztzeit, wo das Subjekt zum Unternehmer seiner selbst wird, die Biopolitik nicht mehr vorwiegend Sache des Staates ist, „sondern auch souveräner Subjekte, die als mündige Patienten, aktive Marktindividuen oder verantwortliche Eltern medizinische und biotechnische Optionen nachfragen (sollen). Immer weniger ist es der Staat, der aus Sorge um die Gesundheit des ‚Volkskörpers‘ souverän über Wert und Unwert des Lebens entscheidet; vielmehr wird diese Entscheidungskompetenz immer mehr den Subjekten selbst zugemutet“ (Lemke 2007a: 102; vgl. Rabinow/Rose 2006). Und die Differenz von dem, was leben soll, und dem, was nicht leben soll, wird ins einzelne Subjekt verlagert: „In mir und als Teil meiner selbst existieren verdächtige Gene und versagende Organe“ (Lemke 2007a: 117). Daher zielen humangenetische Praktiken heute auch nicht mehr auf „Rassenhygiene“, sondern auf individuelle Gesundheitsverbesserung, die ökonomisch gefasst ist, und das Management von Risiken (Rose 2014; vgl. Gehring 2006: 17–34). Was leben soll, wird hier zunehmend zu einer ökonomischen Frage, und das betrifft nicht nur den Einzelnen, sondern auch Bevölkerungen, wie man am Beispiel der Migration zeigen kann (Meyer/Purtschert 2008). Denn die Unternehmerlogik betrifft natürlich nicht nur das Subjekt, alles – auch Staaten und größere Verbände – sollen zum Unternehmer werden, wie Foucault schon in den 1970er-Jahren bemerkte (Foucault 1978/79: 314, 333 f.).

* Vgl. für das Folgende Unterthurner (2016), 166-169 sowie 177-178.

Literatur
Esposito, Roberto (2004): Immunitas. Schutz und Negation des Lebens (Zürich, Berlin: diaphanes).
Foucault, Michel (1974/75): Die Anormalen. Vorlesung am Collège de France 1974–1975 (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003).
Foucault, Michel (1975/76): In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–76) (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001).
Foucault, Michel (1976): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1 (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977).
Foucault Michel (1977/78): Geschichte der Gouvernementalität 1. Sicherheit Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977–1978 (Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004).
Foucault, Michel (1978): „Die Entwicklung des Begriffs des ‚gefährlichen Menschen‘ in der forensischen Psychiatrie des 19. Jahrhunderts“. In: Michel Foucault, Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band 3. 1976–1979 (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003), 568–594.
Foucault Michel (1978/79): Geschichte der Gouvernementalität 2. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978–1979 (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2004).
Gehring, Petra (2006): Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens (Frankfurt/M.: Campus).
Koschorke, Albrecht/Lüdemann, Susanne/Frank, Thomas/de Mazza, Ethel Matala (2007): Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas (Frankfurt/M.: Fischer).
Lemke, Thomas (2007a): Biopolitik und Gouvernementalität (Wiesbaden: VS).
Lemke, Thomas (2007b): Biopolitik zur Einführung (Hamburg: Junius).
Lorey, Isabell (2007): „Als das Leben in die Politik eintrat“. In: Marianne Pieper, Thomas Atzert, Serhat Lorey, Isabel (2011): Figuren des Immunen. Elemente einer politischen Theorie (Zürich: diaphanes).
Meyer, Katrin/Purtschert, Patricia (2008): „Migrationsmanagement und die Sicherheit der Bevölkerung“. In: Patricia Purtschert, Kathrin Meyer, Yves Winter (Hg.), Gouvernementalität und Sicherheit. Zeitdiagnostische Anschlüsse an Foucault (Bielefeld: transcript), 149–172.
Muhle, Maria (2008): Eine Genealogie der Biopolitik. Zum Begriff des Lebens bei Foucault und Canguilhem (Bielefeld: transcript).
Rabinow, Paul/Rose, Nicholas (2006): “Biopower Today”. In: BioSocieties, 1, 195–217.
Rose, Nicholas (2014): „Die Politik des Lebens selbst“. In: Andreas Folkers, Thomas Lemke (Hg.), Biopolitik. Ein Reader (Berlin: Suhrkamp), 420–467.
Unterthurner, Gerhard (2016): Eine Genealogie europäischer Rationalitätsformen – Anmerkungen zur Biomacht nach Foucault, in: Gerhard Unterthurner / Erik M. Vogt (Hg.) (2016): Bruchlinien Europas. Philosophische Erkundungen bei Badiou, Adorno, Zizek und anderen. (Wien: turia+kant), 157-188.

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