In den Werken von Guy-Félix Duportail findet sich die bisher einzige systematische Dialogisierung der sowohl bei Merleau-Ponty als auch bei Lacan auftauchenden topologischen Figuren wie dem Wirbel (tourbillon), der Verwindung (torsion) und der Falte (pli) in ihren jeweiligen Beschreibungen von Subjektivität und Körperlichkeit. Haupthypothese Duportails ist es, dass es gerade die Topologie sei, die den Kern des langjährigen Austauschs der beiden Denker ausmacht. In seinem Aufsatz „Le chiasme d’une amitié: Lacan et Merleau-Ponty“ (2005) zeichnet Duportail diesen Austausch nach und stellt programmatisch seinen eigenen Versuch dar, im Weiterdenken der jeweils unvollständig gebliebenen Entwürfe von Topologie den „Ort“ zu erkunden, an dem die die Phänomenologie sich in eine „ontologische Psychoanalyse“ und umgekehrt die Psychoanalyse sich in eine „phänomenologische Ontologie“ verwandeln ließe (ebd., 350). Die wesentlichen Punkte dieser Überlegungen seien im Folgenden herausgestellt.
Chiasmus zweier Denker
Im Jahr 1960 schreibt Merleau-Ponty in seinem berühmten „Préface à A. Hesnard, L’œuvre de Freud“ davon, Phänomenologie und Psychoanalyse seien beide „auf dieselbe Latenz“ hin ausgerichtet (Merleau-Ponty 2000, 331). Denn beide gemahnten „an das ‚Barbarische‘ in uns“, sie richteten sich auf einen „Bereich der Erfahrung, den wir nicht integriert haben“(ebd., 329). Kurze Zeit später (1964) erscheint Das Sichtbare und das Unsichtbare (SU) posthum. Zeitgleich beginnt Lacan, sich von seinem Projekt des Seminars über den Namen-des-Vaters abzuwenden und sich (in Seminar 11/Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse) im Denken des Objekts „a“ mehr und mehr in das Terrain der Wahrnehmung zu begeben. Merleau-Ponty ist hier – auch wenn Lacan diesen Einfluss in späteren Schriften nicht länger herausstellt, ihn teilweise gar verleugnet – in der Vorstellung des Objekts „a“ omnipräsent: Lacan spricht explizit vom „Fleisch der Welt“ (chair du monde) als „point originel de la vision“ und integriert Merleau-Pontys Genealogie des Sehens in seine eigenen Überlegungen zur Spaltung (schize) des Auges und des Blicks (Duportail 2005, 347f.). Für Duportail lässt sich das Objekt „a“, verstanden als Leere/Hohlraum (vide) bzw. das Nichts, das den Triebkörper durchlöchert (trouer le corps des pulsions) und damit das Sehen dynamisiert, auf der gleichen Ebene denken wie den phänomenologischen „corps de chair“ (ebd., 348). Der Merleau-Ponty’sche Begriff „Fleisch“ (chair) wird für ihn zum Dreh- und Angelpunkt der Topologie Lacans. Das Fleisch, von Merleau-Ponty verstanden als jeder Subjekt-Objekt-Trennung vorausgehendes originäres (vorhumanes) „wildes Sein“ (Être brut, Être sauvage) als „Generalität des Empfindbaren“ (SU 183), ist von Grund auf dynamischer Natur: Es artikuliert sich in den paradoxen Bewegungen von prinzipieller Ungeteiltheit (indivision) und Abweichung (déhiscence) und soll somit die Voraussetzung für den Prozess des Ausdifferenzierens des Wahrnehmens in sich selbst enthalten. Die Heranziehung topologischer Figuren erachtet Duportail nun als notwendige Voraussetzung für die Phänomenologie, eine räumliche Vorstellung der Paradoxien des fleischlichen Seins zu gewinnen und hierüber dem Empfindbaren – unter anderem auch im Denkraum der Psychoanalyse – Stimme zu verleihen.
Topologische Figuren in SU in Bezug zur Topologie Lacans
Tourbillon
Die Figur des Wirbels (tourbillon) ist die zentrale Ausgangsfigur für die Topologie Merleau-Pontys. Das Fleisch als der „verräumlichende-zeitigende Wirbel“ (SU 309) ist im Zusammenhang mit seiner Kritik an Husserl (mit Freud) zentral. Die Wirbelfigur geht bei Merleau-Ponty auf das vorsokratische Denken des Elementalen und die Genealogie bei Empedokles zurück (vgl. dazu Wilm 2017). Sie – und nicht der Zeitfluss Husserls – ist es, die nach Merleau-Ponty den „punctum caecum“ unseres Wahrnehmens ausmacht, ihm zu(un)grundeliegt. Nach Duportail kommt die Wirbelfigur der Idee der Bewegtheit des Raumes nach, sie gibt ein „räumliches Bild des Urgrunds“ (image spacial de l’origin, Duportail 2005, 352) von Bewusstsein im Sinne eines sich um einen Punkt drehenden Feldes.
Enroulement + torsion = pli
In dieser Formel sieht Duportail die Topologie Merleau-Pontys ausgedrückt (ebd., 353). Nur in Verbindung mit der Idee der torsion (Verdrehung/-windung) könne das „Einrollen“ (SU 191) des Wirbels als topologische Figur der Faltung begriffen werden bzw. das Fleisch nicht nur als Kontingenz oder Chaos, sondern auch als „Rückkehr zu sich“ verstanden werden.[1] In dieser Formel lässt sich für ihn das Sehen als Differenzierung oder „interne Negation“ des fleischlichen Seins bzw. als „Höhlung ohne Riss“ denken (Duportail 2005, 353).
Plie = point de retournement de la surface charnelle
Die Öffnung auf den Möglichkeitsraum des Sehens ist nicht wie bei Sartre als (einfaches Denken von) Loch oder Leere innerhalb eines „vollen Seins“ zu verstehen, sondern Resultat der Rückwendung (retournement) des generellen Fleisches zu sich selbst („Nichts“ als Rückseite Seins). Die uneinholbare Umschlagstelle von sehendem und gesehenem, berührendem und berührtem Leib, die Merleau-Ponty mit der Rede von der „Reversibilität des Fleisches“ belegt, kann so – wie die Figur des Chiasmus – topologisch als Faltung ausbuchstabiert werden.
Für Duportail artikuliert sich in diesen topologischen Figuren ein generelles ontologisches Feld, das dasjenige Lacans erweitert. Obwohl Merleau-Ponty von einem „grundlegenden Narzissmus“ des Sehens (SU 183) spricht, ist die Reversibilität des Sich-Berührens/Sehens von einer Figur des Narzissmus im Sinne des Lacan’schen Spiegelsubjekts zu unterscheiden. Das Verhältnis von „Fleisch des Leibes“ und „Fleisch der Welt“ lässt sich nicht über Ideen von Symmetrie oder Ähnlichkeitsbeziehung (ressemblance spéculaire) verstehen, nicht über die Logik von (falscher) Koinzidenz, wie sie das Jubilieren über das Spiegelbild zum Ausdruck bringt. Die Beziehung ist vielmehr diejenige einer essenziellen Nicht-Koinzidenz: Der Möglichkeit eines Verhältnisses von Berührendem und Berührtem ist die prinzipielle (nicht bloß faktische) Nicht-Koinzidenz als prinzipiell Unberührbares zur Voraussetzung gemacht (Duportail 2005, 355). Dieses Unsichtbare (auch: das Unbewusste) ist in der Figur des Wirbelns nicht als „Objekt hinter“ ausgedrückt, sondern als Absenz in der Höhlung bzw. Faltung. So lässt sich auch die „Latenz“ in topologischer Weise als passiv-synthetisches Prinzip verstehen, das das transzendentale Ego ersetzt (ebd., 356).
Die Parallele zu Lacan ist stark: Sowohl Merleau-Pontys Unsichtbares als auch das Objekt „a“ Lacans zeigen sich nicht in der frontalen Konfrontation mit den Phänomenen, sondern indirekt (z.B. in Blick und Stimme) über ihre Absenz, die Latenz oder den „Stoff“[2] des Sichtbaren. Der Unterschied zwischen den beiden Topologien besteht aber darin, dass bei Merleau-Ponty das Konzept der Falte/Rückwendung nicht wie bei Lacan auf einem uneinholbaren Verlust abhebt. Lacans Shift/Verschiebung[HW1] von den Oberflächen zu den Knoten vollzieht sich auf der Grundlage des Schnitts. Die Topologie des Schnitts (Knoten/Leere/Verlust) steht der Topologie der Reversibilität (Falte/Rückwendung/Verdrehung) gegenüber. Dieser Unterschied konkretisiert sich für Duportail in der Frage nach der Rolle des Imaginären und der Sprache. Lacans Vorwurf an Merleau-Ponty (in den Texten „M. Merleau-Ponty“ und „Les Temps Modernes“) lautet, dass dieser keinen Platz für das Phantasma lasse, die Rolle des Signifikanten in der Strukturierung der sexuellen Erfahrung nicht anerkennt und die Signifikation auf die expressive Rolle des Körpers im Sprechen (parole) reduziert. Das Primat der Schnitte des Symbolischen vor den passiven Synthesen der Wahrnehmung wird von Merleau-Ponty nicht anerkannt.
Neudenken des Verhältnisses Phänomenologie und Psychoanalyse
Trotz der Unterschiede muss nach Duportail die Idee einer „gleichen Latenz“ in der Psychoanalyse und der Phänomenologie nicht aufgegeben werden, einerseits weil Merleau-Pontys Topologie/Ontologie schlicht nur in Fragmenten vorliegt und gerade in den Punkten zum Imaginären, zur Signifikation etc. nicht mehr ausgearbeitet werden konnte. Andererseits relativiert die Figur der Knoten die Bedeutung des Symbolischen als Alleinverantwortlichen für den Schnitt. Die Idee der Rückwendung/Verdrehung schließt diejenige des Schnitts nach Duportail nicht unbedingt aus. Auch Merleau-Ponts spricht in SU nämlich von der „Einschließung (investissement) einer Offenheit/Öffnung“ des Seins, welche mit Lacans Phantasma korrespondiere (ebd., 359).[3] Die Topologie Merleau-Pontys innerhalb seiner Philosophie des Fleisches, verstanden als „ontologie matérielle fondatrice de la discipline“ (ebd., 360), stellt für Duportail somit eine einzigartige Möglichkeit für die Psychoanalyse dar, sich aus der Begrenzung auf die Anthropologie und den inadäquaten Status einer Wissenschaft des Menschen zu befreien.
Raum und Zeit im Wirbel
Aus der Perspektive der Phänomenologie Merleau-Pontys scheint es sehr fruchtbar, die Wirbelfigur, wie Duportail es tut, als Figur einer Raumdeutung ernst zu nehmen und sie nicht schlicht als eine beliebige Metapher abzutun „für etwas, das sich anders schwer sagen lässt“, wie es lange vor allem im deutschsprachigen Diskurs geschah. Die Wendung zur mathematischen Topologie kommt dabei bei Merleau-Ponty aber wohl nicht zufällig lange nicht so abstrakt und formelhaft daher, wie sie bei Duportail dargestellt ist. Hier wäre die Begriffsgenese des Wirbel(n)s (über die Vorsokratiker, Schelling, Heidegger, Fink) wichtig, um den ontologisch-naturphilosophischen Charakter dieser „Topologie“ in der Tiefe zu verstehen. Diese Ergänzung wäre unter Umständen auch für die Dialogisierung mit der Lacan’schen Topologie von Gewinn.
Von zentraler Bedeutung für die Wirbelfigur ist außerdem nicht nur die räumliche, sondern auch ihre zeitliche Dimension. Diese explizit zu berücksichtigen gäbe der räumlichen Auslegung eine weitere Fundierung. Das retournement als „Rückwendung“ wäre somit auch im Sinne einer „Wiederkehr“ wichtig. Vielleicht wäre „Kehrtwende“ eine gute Übersetzung, um beide Dimension gleichermaßen anzusprechen. Gerade für die Bezüge zur Psychoanalyse, zum Unbewussten, zum körperlichen bzw. fleischlichen (Nicht-)Erinnern, ist die zeitliche Dimension natürlich essenziell, handelt es sich schließlich um eine Figur der Genese, der Stiftung. Das chiastische „Ineinander“ des wirbelnden Fleisches wird von Merleau-Ponty ganz wesentlich auch als nichteinholbare Simultanität beschrieben, die nicht nur Ideen des „Nebeneinanders“ des Raumes, sondern auch des „Nacheinanders“ der Zeit ablegen soll (vgl. dazu auch Giuliani/Waldenfels 2005). In Abkehr von der idealistischen Denktradition geht es in Merleau-Pontys Ontologie gerade darum, nicht nur den Raum, sondern – untrennbar davon – auch die Zeit vom Körper her zu denken. Als eine „Zeit der Körper“, wenn man so will. Merleau-Ponty spricht auch von einer „Zeit des Leibes, als „Zeit-Taximeter des Körperschemas“ (SU 227).
Duportail, Guy-Félix (2005): „Le Chiasme d’une amitié: Lacan et Merleau-Ponty“. In: Chiasmi international (publication trilingue autour de la pensée de Merleau-Ponty), Nr. 6, 345-365.
Literatur
Giuliani, Regula / Waldenfels, Bernhard (2005): „Wirbel der Zeit“. In: Bernhard Waldenfels, Idiome des Denkens. Deutsch-Französische Gedankengänge II (Frankfurt am Main: Suhrkamp), 90-115.
Merleau-Ponty, Maurice (1986, SU): Das Sichtbare und das Unsichtbare. Hg. von Claude Lefort. Übers. von Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels. München: Wilhelm Fink.
Merleau-Ponty, Maurice (2000): „Vorwort zu A. Hesnard“. In: Regula Giuliani (Hg.), Merleau-Ponty und die Kulturwissenschaften (München: Wilhelm Fink), 325-331. Orig.: L’oevre de Freud et son importance pour le monde modern (Paris: Payot 1960).
Wilm, Heidi (2017): Elementale Welt. Die Denkfigur des Fleisches
im Spätwerk Merleau-Pontys. Dissertation, Universität Wien.
[1] „Einrollen“ und „Falte“ sind häufige Ausdrücke in SU, die torsion hingegen wird von Duportail hier dazuentworfen; bei Merleau-Ponty kommt nur einmal der Ausdruck entourage vor.
[2] doublure/étoffe bei Lacan, tissu bei Merleau-Ponty, Anmerkung der Autorin.
[3] Duportail zitiert dazu eine der wichtigsten Stellen in SU, die das Verhältnis von Psychoanalyse und Ontologie betreffen:
„Oberflächliche Interpretation des Freudianismus: er ist Bildhauer, weil er analer Charakter ist, weil die Fäkalien schon Lehm sind, gestalten usw.
Aber die Fäkalien sind nicht Ursache: wären sie dies so wäre jedermann Bildhauer
Die Fäkalien führen nur dann zum Entstehen eines Charakters (Abscheu), wenn das Subjekt sie so erlebt, daß es dort eine Dimension des Seins findet –
Es geht nicht um eine Erneuerung des Empirismus (Fäkalien, die dem Kinde einen gewissen Charakter aufprägen). Es geht darum zu verstehen, daß die Beziehung des Kindes zu den Fäkalien eine konkrete Ontologie bedeutet. Keine existentielle, sondern eine ontologische Psychoanalyse machen
[…] Anders gesagt, anal sein erklärt nichts: denn um es zu sein, bedarf es der ontologischen Fähigkeit (= Fähigkeit, ein Seiendes als repräsentativ für das Sein zu nehmen) –
Was Freud also aufzeigen will, das sind keine Kausalketten; ausgehend von einem Polymorphismus oder Amorphismus, der einen Kontakt mit dem Sein der Promiskuität und der Transitivität bedeutet, ist es die Fixierung eines Charakters durch Einschließung der Offenheit für das Sein in ein Seiendes, so daß sie fortan durch dieses Seiende hindurch geschieht
/ Die Philosophie von Freud ist also nicht Philosophie des Körpers, sondern Philosophie des Fleisches – […]“
(Notiz vom Dezember 1960, SU 232/324)