Lepra – Pest – Pocken

Bei der Analyse der Machttypen* Souveränität, Disziplin und Biomacht/Sicherheit und verschiedener Strukturen von Ein- und Ausschluss hat Foucault sich immer wieder auf epidemiologische Modelle bezogen. So steht das Modell der Lepra, welches der Souveränitätsmacht entspricht, für eine rigide Grenzziehung (Foucault 1975, 274 f.; Foucault 1974/75, 63 ff.): Die Leprakranken wurden im Mittelalter einfach ausgeschlossen, sie wurden in ein Außen verbannt, wobei dieses Außen auch das Innen einer Einsperrung sein kann, d.h. ein Ausschluss, der ein Einschluss ist, ohne differenzierend zu wirken. Im Modell der Pest, was den Disziplinen entspricht, wird die zweiteilende Grenzziehung von vielfältigen Trennungen abgelöst. Beim Kampf gegen die Pest wird jedem ein Platz zugewiesen, die Menschen werden eingeschlossen, die ganze Stadt wird eingeteilt und gerastert und der Gesundheitszustand der Einzelnen wird dokumentiert. Hier ist für Foucault eine Macht am Werk, die nicht einfach mehr ausschließt und verbannt, sondern einschließt, produktiv und wissenserzeugend verfährt (Foucault 1975: 250, 254 ff., 290, 245 ff.). Im Rahmen dieser einschließenden Macht gibt es jedoch ebenfalls Ausschlüsse, aber die Ausgeschlossenen werden nun in Differenz zum Lepra-Modell nicht gänzlich exkludiert, sondern „behandelt“, sodass sich historisch gesehen das Lepra- und das Pestmodell überlappt haben (Foucault 1975, 255 f.). Hinter den Disziplinarmaßnahmen steckt dabei „die Angst vor den ‚Ansteckungen‘, vor der Pest, vor den Aufständen, vor den Verbrechen, vor der Landstreicherei, vor den Desertionen, vor den Leuten, die ungeordnet auftauchen und verschwinden, leben und sterben“ (Foucault 1975: 254). Für Sarasin ist das eines der wiederkehrenden Motive in Foucaults Werk: wie Ordnungen gegen Unordnung, d. h. gegen Ansteckung, Infektion etc. durchgesetzt werden (Sarasin 2005: 92, 99; vgl. Lorey 2011). Das Pockenmodell steht dagegen für die Regulierung der Bevölkerung und die Sicherheitstechnologien im Liberalismus – in Differenz zum Modell des Ausschlusses (Lepra) und des Einschlusses bzw. der Quarantäne (Pest) (Foucault 1977/78, 25). Im Modell der Pocken wird die Gesamtheit der Bevölkerung ohne Bruch zwischen Kranken und Nichtkranken erfasst, um mittels Statistik Wahrscheinlichkeiten festzustellen und zu kontrollieren, Kostenkalküle zu erstellen, indem Risiko- und Gefährlichkeitsverteilungen und Morbiditätsraten z.B. die Impfpraxis anleiten. Gefährlichkeit und Risiko werden zu leitenden Begriffen, und die Angst vor der Gefahr zeigt sich für Foucault in den Kampagnen um Hygiene und Krankheit, aber auch in der Angst vor „Entartung“ (Foucault 1978/79: 102). Das Modell der Pocken bedeutet nun aber auch, das Fremde und Bedrohliche in abgeschwächter Weise in den Körper zu nehmen, um sich immun zu machen, sowohl auf der Ebene des individuellen wie des kollektiven Körpers: „Die binäre Strukturierung von positiv/negativ, Einschluss/Ausschluss wird durchbrochen durch eine funktionale Einverleibung, durch eine inkorporierende Neutralisierung der Bedrohung, so dass die der ‚Zirkulation inhärenten Gefahren aufgehoben werden‘“ (Lorey 2011: 267; vgl. Foucault 1977/78: 100 f.). Dies bezieht sich nicht nur auf Krankheiten, sondern auch auf Revolten, auf ansteckende soziale Kontakte und ungeregelte Zirkulationen (Lorey 2011: 269). Biopolitische Gouvernementalität am Leitfaden der Pocken bedeutet einen flexibleren Schutz der Bevölkerung durch partielle Integration der „Fremdkörper“. Allerdings überlappen sich diese Sicherheitsmechanismen mit den anderen Machttypen. Denn auch im Liberalismus geht es um den Schutz bestimmter (vor allem ökonomischer) Freiheiten, und diejenigen, die eine Gefahr darstellen, werden Objekte disziplinärer oder rassistischer Maßnahmen.

* Vgl. für das folgende Unterthurner (2016), 172-174.

Literatur
Foucault, Michel (1974/75): Die Anormalen. Vorlesung am Collège de France 1974–1975, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003.
Foucault, Michel (1975): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1976.
Foucault Michel (1977/78): Geschichte der Gouvernementalität 1. Sicherheit Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977–1978, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004.
Foucault Michel (1978/79): Geschichte der Gouvernementalität 2. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978–1979, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2004.
Lorey, Isabel (2011): Figuren des Immunen. Elemente einer politischen Theorie, Zürich: diaphanes.
Sarasin, Philipp (2005): „Ausdünstungen, Viren, Resistenzen. Die Spur der Infektion im Werk Michel Foucaults“, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 16. Jg., Heft 3, 88–108.
Unterthurner, Gerhard (2016): Eine Genealogie europäischer Rationalitätsformen – Anmerkungen zur Biomacht nach Foucault, in: Gerhard Unterthurner / Erik M. Vogt (Hg.) (2016): Bruchlinien Europas. Philosophische Erkundungen bei Badiou, Adorno, Zizek und anderen. Wien: turia+kant, 157-188.

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