Händeberührung

Kaum ein philosophischer Ansatz kommt ohne erläuternde Beispiele aus. Das ist für die Phänomenologie nicht anders. In der Phänomenologie der Leiblichkeit wird immer wieder das Beispiel der Händeberührung angeführt, weil es etwas Besonderes demonstrieren kann, und zwar etwas, was zur Grundcharakteristik leiblichen Existierens zählt. Es ist ein sehr prominentes Beispiel. Es sollten damit die leibliche Selbstreflexivität und die Fähigkeit zur Doppelempfindung bezeugt werden. Die Doppelempfindung ist eines der zentralen Kennzeichen der leiblichen Existenz im Kontext der Phänomenologie der Leiblichkeit (Stoller 2010, S. 93 ff.).
In der phänomenologischen Forschung wird zumeist Maurice Merleau-Ponty im Zusammenhang mit der Händeberührung genannt. Dieser bezieht sich sowohl in seinem Hauptwerk der Phänomenologie der Wahrnehmung als auch in seinem posthum veröffentlichten Spätwerk Das Sichtbare und das Unsichtbare darauf. Merleau-Ponty bringt das Beispiel der Selbstberührung, also wenn man sich selbst mit der Hand berührt: „Berühre ich meine rechte Hand mit der linken, so hat der Gegenstand rechte Hand die Eigentümlichkeit, auch seinerseits die Berührung zu empfinden“ (PhW 118). Es handelt sich also um eine ganz spezifische Doppelempfindung, die der Leiblichkeit eigen ist, das heißt die Tatsache, dass die berührende Hand immer auch die berührte Hand ist. Merleau-Ponty interessiert sich insbesondere für dieses Umschlagphänomen, das sich in der Berührung zeigt: „Was die Rede von den ‚doppelten Empfindungen‘ sagen wollte, war dies, daß im Übergang von einer Funktion zur anderen die jetzt berührte Hand sich als dieselbe gibt, die gleich darauf die berührende sein kann“ (ebd.). Damit in Zusammenhang ist von Bedeutung, dass es trotz dieser eigentümlichen Selbstwahrnehmung in der Selbstberührung nicht zu einer Einheitsempfindung zwischen den beiden Händen kommt, oder in den Worten Merleau-Pontys, „daß niemals beide Hände zugleich wechselseitig zueinander sich als berührende und berührte verhalten“ (ebd.). Das heißt, es handelt sich bei dieser Art Berührung nicht um einen Empfindungskomplex, bei dem zwei Empfindungen in eins fallen. Vielmehr müsse man von einer „Differenz im Leib“ sprechen, wie Waldenfels hervorhebt (Waldenfels 2000, S. 37). Im Spätwerk wird Merleau-Ponty davon sprechen, dass es niemals zu einer Koinzidenz zwischen den beiden Händen kommen könne. Bei dieser Art leiblichen Empfindung gehe es immer um das eine oder das andere (vgl. Merleau-Ponty 1986, S. 194), sodass von einem „Hiatus“ gesprochen werden müsse, der eine Koinzidenz ausschließe (vgl. ebd.). Wenn man sich selbst auf die eigene Händeberührung konzentriert und sich gedanklich in die Berührung hineinversetzt, gelinge es nicht, beide Hände zugleich als berührende oder als berührte wahrzunehmen; Merleau-Ponty spricht von einem „Mißlingen im letzten Augenblick“ (ebd., S. 24). Es mag der kleine Hinweis erlaubt sein, dass bei diesem Beispiel gar nicht der Händedruck gemeint ist, wie man jemandem bei der Begrüßung zum Beispiel die Hand gibt, sondern schlicht eine Händeberührung.
Auch wenn zumeist Merleau-Ponty im Zusammenhang mit der leiblichen Selbstberührung respektive der Händeberührung zitiert wird, so gilt dennoch die Tatsache, dass die Händeberührung an zentraler Stelle bereits Husserl zur Demonstration einer besonderen Wahrnehmungskonstitution diente. In den Ideen II, also jenem Band, in dem Husserl die Grundlagen einer Phänomenologie der Leiblichkeit entwickelte, dient ihm die Händeberührung als Beispiel dafür, dass die taktile Wahrnehmung ganz anders funktioniert als die visuelle Wahrnehmung. Es fehle dort der perzeptive Selbstbezug. So schreibt Husserl über die visuelle Wahrnehmung im Unterschied zur taktilen Wahrnehmung, und zwar die Selbstberührung: „Ich sehe mich selbst, meinen Leib, nicht, wie ich mich selbst taste. Das, was ich gesehenen Leib nenne, ist nicht gesehenes Sehendes, wie mein Leib als getasteter Leib getastetes Tastendes ist“ (Hua IV, S. 148). Die visuellen Empfindungen seien also eine ganz andere Art als die Tastempfindungen.
Unter der eigentlichen Doppelempfindung versteht man die Selbstberührung des Leibes, als wenn die eigene Hand die andere eigene Hand berührt. Das sollte nicht verwechselt werden mit einer anderen Form der Doppelempfindung, und zwar mit derjenigen, bei der die eigene Hand einen fremden Gegenstand außerhalb der Eigenleibsphäre berührt (eigene Hand – fremder Gegenstand). Husserl hat darauf aufmerksam gemacht, dass die leibliche Doppelempfindung in der Selbstberührung wesentlich „komplizierter“ ist als die leibliche Empfindung eines Gegenstandes (Hua IV, S. 147). Bei der Hand-Hand-Berührung kommt es im Unterschied zu einer Hand-Ding-Berührung zu einer doppelten Rückbezüglichkeit: Jede der beiden Hände wird in der Berührung selbst berührt. Noch einmal etwas anderes ist es, wenn man bei einer Händeberührung die Hand eines anderen berührt: Die fremde Hand ist nicht Teil des eigenen Leibes; als fremde Hand, als die Hand eines anderen, ist sie aber auch nicht einfach ein Ding oder Gegenstand (vgl. Stoller 2010, S. 97 f.).

Literaturverzeichnis
Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution. Hg. von Marly Biemel. In: Husserliana, Bd. IV. Haag: Martinus Nijhoff 1952 (zit. als Hua IV).
Merleau-Ponty, Maurice (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. Übers. von Rudolf Boehm. Berlin: Walter de Gruyter (zit. als PhW).
Merleau-Ponty, Maurice (1986): Das Sichtbare und das Unsichtbare. Hg. von Claude Lefort. Übers. von Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels. München: Wilhelm Fink.
Stoller, Silvia (2010): Existenz – Differenz – Konstruktion. Phänomenologie der Geschlechtlichkeit bei Beauvoir, Irigaray und Butler. München: Wilhelm Fink (zit. als SuU).
Waldenfels, Bernhard (2000): Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Hg. von Regula Giuliani. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

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