Immunisierung

Nach Emily Martin, Donna Haraway und Roberto Esposito ist das Immunsystem* als flexibles Netzwerk verstanden heute eines der zentralen Modelle, wonach Selbst und Nichtselbst, Eigenes und Fremdes interpretiert werden (Martin 1998; Haraway 1995; Esposito 2004; Lemke 2000). Im „immunologischen“ Modell, so Lemke, wird das Immunssystem und der Körper zu einem „fließenden steuer- und regeltechnischen Netzwerk“ (Lemke 2000: 401), das sich flexibel mit Risiken auseinandersetzt, wobei die Metaphorik des Immunsystems speziell in Zeiten brüchiger Identitäten zunehmend martialischer wird. Daher auch die ganzen Ängste vor Viren, vor Ansteckung und Infektion, die sich auch zunehmend neben dem Alltag im politischen Diskurs und im Umgang mit Fremden und Immigranten durchsetzt, sodass jeder Fremde zu einem permanenten Risikoträger und Eindringling wird oder die Terroristen nach 9/11 mit Viren gleichgesetzt werden, wie es Sarasin herausgearbeitet hat, was natürlich wiederum eine Biologisierung der Politik bedeutet, die eine lange Tradition hat. Die Bakteriologie war selbst in ihrer Sprache oft politisch und umgekehrt die Vernichtungspolitik des 20. Jahrhunderts bakteriologisch geprägt mit der Rede von „Bazillen“, „Schädlingen“, „Mikroben“ und „Viren“ etc. (Sarasin 2004: 145 ff). Aber diese Rede von Viren oder Fremdkörpern muss heutzutage nicht mehr unbedingt biologisch gefasst werden, sondern kann sich auch mit dem Neorassismus verbinden, der von unaufhebbaren kulturellen Differenzen spricht, die nicht „vermischt“ werden sollen. Und gerade in Zeiten der Globalisierung ist das aktuell, denn Globalisierung heißt auch „Angst vor Ansteckung“ und grenzenlose Ansteckungsmöglichkeit (Hardt/Negri 2002: 149), worauf mit einem Mix aus neuen Mauern, disziplinärer Einschließung und flexiblem Grenzmanagement geantwortet, d.h. auch neuen Kopplungen von Souveränität, Disziplin und Sicherheit. Denn nach 9/11 scheinen heutige Politiken mit ihrer Sicherheitspolitik zu einer Art von „Seuchenkontrolle“ und medizinischer Polizei zu werden (Sarasin 2004: 172 ff.).[1]

Anmerkungen
* Vgl. für das Folgende Unterthurner (2016), 175-177.
[1] Die Arbeit von Lorey ist eine große Studie zum Verhältnis von Immunisierung und Politik (Lorey 2011).

Literatur
Esposito,  Roberto (2004): Immunitas. Schutz und Negation des Lebens, Zürich, Berlin, diaphanes.
Haraway, Donna (1995): Die Biopolitik postmoderner Körper. Konstitutionen des Selbst im Diskurs des Immunsystems, in: dies:  Die Neuerfindung der Natur, Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt/M., Campus,  160–199.Hardt, Michael/Negri, Antonio (2002): Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/M.: Campus.
Lemke, Thomas (2000): „Immunologik – Beiträge zu einer Kritik der politischen Anatomie“, in: Das Argument, 236, 399–411..
Lorey, Isabel (2011): Figuren des Immunen. Elemente einer politischen Theorie, Zürich, diaphanes..
Martin, Emily (1998): „Die neue Kultur der Gesundheit. Soziale Geschlechtsidentität und das Immunsystem in Amerika“, in: Philipp Sarasin, Jakob Tanner (Hg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M., Suhrkamp, 508–525..
Sarasin, Phillip (2004): „Anthrax“. Bioterror als Phantasma, Frankfurt/M., Suhrkamp..
Sarasin, Philipp (2005): „Ausdünstungen, Viren, Resistenzen. Die Spur der Infektion im Werk Michel Foucaults“, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 16. Jg., Heft 3, 88–108.
Unterthurner, Gerhard (2016): Eine Genealogie europäischer Rationalitätsformen – Anmerkungen zur Biomacht nach Foucault, in:Gerhard Unterthurner / Erik M. Vogt (Hg.) (2016): Bruchlinien Europas. Philosophische Erkundungen bei Badiou, Adorno, Zizek und anderen. Wien, turia+kant, 157-188.

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