Badiou (2010) stellt auf Basis einer Lektüre von L’Etourdit (Lacan 1973) dar, wie eine (zugegeben ideale) Praxis in der Ausbildung (franz. la formation) von PsychoanalytikerInnen Lacan zur Notwendigkeit der Formalisierung für die Psychoanalyse geführt hat. Ich skizziere im Folgenden die Argumentation, die für die Frage (un)möglicher Unterscheidungen zwischen Philosophie und Psychoanalyse zentral ist.
Die Passe als Modus des Abschlusses einer psychoanalytischen Ausbildung sieht vor, dass AnalysantInnen, die im Rahmen ihrer Lehranalyse eine psychoanalytische Erfahrung gemacht haben – hier verstanden als die Ausbildung eines Begehrens, dass sie selbst psychoanalysieren wollen – davon nur selbst berichten können und dies am besten gegenüber jemandem tun, der nicht zu ihrem näheren Umkreis gehört. (Das lässt sich als ein Versuch lesen, dem sonst wuchernden Problem von Des/Identifizierungen zu entkommen, das das Klima in vielen psychoanalytischen Vereinen bestimmt.) Die AnalysantInnen erzählen ein oder zwei Leuten (nacheinander und getrennt) von dieser Erfahrung. Diese anderen Leute nehmen im weiteren Verfahren eine Art “Zeugenstatus” ein. In der Folge kommt es in einem cartellartigen Gremium im Beisein der ersten “Zeugen” zu einer Entscheidung über die (Nicht)Mitgliedschaft der Applikanten. Über institutionspolitische Vor- und Nachteile solcher Regelungen, die bis heute von Mitgliedsvereinen der World Association of Psychoanalysis praktiziert werden, ist hier nicht der Ort nachzudenken.
Die Passe macht aber theoretisch ein Problem sichtbar, das sich angesichts von Lacans im Laufe der Zeit dominierender werdenden Betrachtung des Unbewussten als etwas vor allem dem Realen Zugehöriges stellt: Wie kann überhaupt von einer Erfahrung mit dem (eigenen) Unbewussten als einer realen Formation PASSEnd (und das heißt ohne Rückgriff auf etablierte Sinnsysteme) gesprochen werden? Im Zentrum der Kur steht der Schritt von einer (imaginären) Unfähigkeit zu einer (realen) Unmöglichkeit (vgl. Badiou, Cassin 2010, 105) – schlichter gesagt: die Anerkennung der Tatsache, dass es nicht die imaginierte Unfähigkeit des/r Analysierten ist, die dem gewünschten Inzest entgegensteht, sondern eine nicht fassbare Unmöglichkeit. Während vom ersten, der imaginären Unfähigkeit, sinnvoll gesprochen werden kann, ist dies bei der realen Unmöglichkeit nicht der Fall.
In der Philosophie stehen Sinn und Wahrheit in der Regel auf einer Seite mit dem Symbolischen oder dem Symbolisierbaren. Da haben Sinn bzw. Bedeutung und die Frage nach Wahrheit einen Platz. Im Realen, im vor allem real (un)begriffenen Unbewussten ist die Sinnsuche ein vergebliches Unternehmen. Indem Lacan diesen Aspekt (vor allem im Spätwerk) hervorhebt, ist er für Badiou gemeinsam mit Wittgenstein, Nietzsche, Kierkegaard, Pascal ein Antiphilosoph.
Die Passe durchlaufen, bedeutet einen psychoanalytischen Akt zu bezeugen. Ein solcher Akt lässt sich nicht in Form einer Proposition darstellen. Er fällt vielmehr zusammen mit der Tatsache, dass er stattgefunden hat (vgl. ebd., 118). Davon zu sprechen wäre ein Sprechen von dem, worüber in der Philosophie zu schweigen ist. Mit dem, was in der Passe passiert (und in vielen “Sprechakten” über Erfahrungen von AnalysantInnen wie von AnalytikerInnen in der Psychoanalyse) werden aus diesem Grund (philosophisch) jede Menge von Problemen eingekauft, unter anderem das einer Univozität des Seins. Die Rechtfertigung der Formalisierung lautet daher (über die Banden der Negation gespielt): Eine mathematische Formulierung ist im Unterschied zu einer sprachlichen Beschreibung in der Lage, eine Univozität des Gesagten aufrecht zu halten (vgl. ebd., 102). Bei der Passe wird etwas bezeugt, was konstitutiv nicht einzuordnen ist in Sinnzusammenhänge. Der vom Realen berührte Sinn kann der Wahrheit als – im (unmöglichen) Fall der Bezeugung einer psychoanalytischen Erfahrung – abwesendem Sinn (Ab/Sinn) in der Erprobung einer Formalisierung zum Durchbruch verhelfen (vgl. ebd., 103). Die Formalisierung selbst wird als eine Form von Wissen bezeichnet. Formalisierungen können auf die Probe gestellt werden im Unterschied zu Sinnzusammenhängen, die hermeneutisch anzugehen sind. Für Badiou markiert die Trias Wahrheit, Wissen und Reales die Grenze zwischen Philosophie und Psychoanalyse.
Das Geschlecht bietet das Reale als das eigentlich Unmögliche an, als das unmögliche Geschlechterverhältnis (ebd., 111). Der zum Realen gehörende Ab-Sinn (ab-sens) entspricht dem Fehlen (l’absence) jeglichen sexuellen Sinns. Da geht es dann um Absex. Aber diese Überlegungen führen über das Thema der Unterscheidung von psychoanalytischem und philosophischem Vorgehen hinaus.
Literatur
Badiou, Alain / Barbara Cassin (2010): Il n’y a pas de rapport sexuel. Deux leçon sur «L’Étourdit» de Lacan. Paris: Fayard.
Lacan, Jacques (1973): L’Etourdit, in: ders. (2001): Autres écrits. Paris: Seuil, 449-495
einige bemerkungen von außen, ein bisschen auch ungerecht, weil ich badiou zu wenig kenne und nur auf die zusammenfassung von ulrike reagieren kann – ein bisschen übertreibe ich auch, um für mich probleme zu bezeichnen.
wie schon mal gesagt/geschrieben, ist es für mich nicht selbstverständlich, dass man an die formalisierung glaubt. es ist eine theoretische entscheidung und man muss eine bestimmte ontologie im hintergrund und als voraussetzung haben, um die formalisierung so auszeichnen zu können (wobei ich dazusagen möchte: man hat immer eine bestimmte ontologie). zunächst muss man die sphäre des sinns/der bedeutung als eine abgeschlossene totalität voraussetzen. und dann setzen, dass die formalisierung den zugang zum nichtsinn ermögliche. man kann natürlich das objekt so ummodeln, dass der zugang sich von da her rechtfertigt, indem man behauptet, dass das unbewusste wie eine zahl strukturiert ist … als ob es einen außenstandpunkt gäbe, von dem aus die sphären des sinns und des nicht-sinns betrachtet werden könnten. badiou spricht allerdings in sätzen mit bedeutung über die formalisierung und nicht in formeln. seine ontologie ist nicht voraussetzungslos, sondern höchst spekulativ – (spekulativ ist nicht negativ gemeint, weil jede philosophie und jede theorie auch in meiner sicht spekulativ ist). ich weiß auch nicht, was es für überlappungen mit anderen sprachphilosophien des 20. jahrhundert geben kann.
um keine missverständnis aufkommen zu lassen: ich teile das projekt der dekonstruktion des sinn-begriffs, aber es gibt unterschiedliche wege und strategien (derrida, Lyotrad etc.) mit je unterschieldichen problemen.und was ich problematisch finde, ist, wenn man sagt, es gibt jetzt die EINE sprache, methode, die das kann. Und es muss diskutierbar sein.
(in früheren diskussionen rund um heidegger, adorno, lyotard war es die kunst, die einen zugang zum nichtsinn ermöglicht, während die philosophie z.b. identitätsdenken, metaphysik etc war).
weiters problematisch erscheint mir, wenn von badiou großvokabeln wie „der sinn“, „die wahrheit“ etc. verwendet werden, die dann einem bereich oder einer disziplin zugeordnet werden. wenn mit solchen großeinteilungen die philosophie auf der seite des sinns eingeordnet wird, der „schweigen muss“, kann es aus meiner sicht keine gewinnbringende auseinandersetzung zwischen philosophie und psychoanalyse mehr geben. Meine sätze als „philosoph“ sind im bereich des sinns und insofern bin ich vom theoriedesign im „falschen“.
des weiteren wird die psychoanalytische erfahrung bei badiou zu einer quasimystischen erfahrung, von welcher nur sagen kann, dass sie stattgefunden habe (//zu weiblichem genießen, encore seminar XX(?)). wenn man dafür dann sätze/sprache verwendet, handle man sich philosophische probleme ein, weshalb man besser formalisiere (so badiou). Neben der strategie, dass das objekt es gebietet zu formalisieren (das unbewusste strukturiert wie eine zahl), ist die andere, sich auf eine so unaussprechbare erfahrung zu beziehen, und weil auch hier gesetzt wird, dass nur eine formale spräche jenseits von sinn und bedeutung ist, ist das resultat, dass man formalisieren müsse, um sich keine philosophischen probleme einzuhandeln, was vom theoriedesign nicht ungefährlich ist.
vom effekt her, wird die psychoanalytische erfahrung zu etwas gemacht, das nicht befragbar ist, weil man mit fragen ja bereits im bereich des sinns ist, damit gibt es keine diskussion. Zum satz: „Formalisierungen können auf die Probe gestellt werden im Unterschied zu Sinnzusammenhängen, die hermeneutisch anzugehen sind.“ „auf die probe stellen können“, das klingt zunächst verführerisch, nach rechenprobe mit eindeutigem ergebnis nur 1.) selbst dieses müsste wiederum sprachlich interpretiert werden und 2.) bisher sind lacan, badiou …diese formel schuldig geblieben, oder gibt`s die wo?! Apropos: auch in der hermeneutik sind deutungen nicht einfach wahr, sondern werden auf die probe gestellt.
Aber vielleicht wäre es besser, nicht in der diskussion so allgemein zu bleiben, sondern an konkreten phänomenen methoden zu erproben.
Was sich mit Badiou bezeichnen laesst, ist eine meiner Ansicht nach brauchbare Grenze zwischen dem, was in einer philosophischen Praxis passiert und dem, was in einer Psychoanalyse unter Einbeziehung einer _bestimmten_ Auffassung des Unbewussten geschieht/geschehen kann. Diese Auffassung wird dargelegt von Lacan und in Badious Lesart von L’Étourdit sogar griffig gemacht. Mit dem Bezug zur konkreten Ausbildungssituation in der Psychoanalyse und den sich daran anknüpfenden Vereinszuständen kann ich praktisch viel damit anfangen.
Auch theoretisch kann Badious Vorschlag einiges, was meines Erachtens für das Verständnis zeitgenössischer Körperforschung z.B. in der Medizin weiterführend sein könnte. Denn medizinische Studien stützen sich heutzutage durchgehend auf Formalisierungen. Solche Studien als Teile von “Zeugenaussagen” im Sinne einer Passe zu begreifen, könnte weiter führen als die schon etwas gewohnte Tradition, in der auf leibseelische Einheit und dergleichen verwiesen wird.
Auch wenn ich zustimmen würde, dass die Wortwahl mit Sinn, Wahrheit, Wissen etc. großspurig und auch grob daher kommt, bietet Badiou eine Lesart an. Es ist im Detail zu untersuchen, inwieweit sie auch über die Frage der Passe hinaus plausibel ist. Ich verstehe Badiou nicht so, dass damit gleich allgemeine neue Gesamtsprachregelungen vorgeschlagen oder gar eingeführt werden sollen.
Die Formalisierungen, um die es geht, sind die Matheme, von denen es bei Lacan viele gibt.