Instinkt (instinct)

Foucault* zeigt in seiner Vorlesung „Die Anormalen“ (Foucault 1974/75), wie im 19. Jahrhundert Verbrechen und Monströsität im Zuge einer Pathologisierung einen engen Konnex eingegangen sind und die Psychiatrie sich konstituieren konnte als Gestalt einer „öffentlichen Hygiene“, die die Gesellschaft vor „gefährlichen Individuen“ schützen sollte (Foucault 1974/75, S. 155). Der Wahnsinn wurde als Krankheit und Gefahr codiert und der Verbrecher als mit einer monströsen und krankhaften Natur behaftet. Das war auf der epistemologischen Ebene ermöglicht unter anderem durch die „Erfindung“ des Begriffs „instinct“, wodurch von der Psychiatrie zuerst „grundlose Verbrechen“ verständlich gemacht und interpretiert werden konnten. Diese verweisen nun auf eine „morbide Dynamik der Instinkte“ (Foucault 1974/75, S. 174, 173, 214 [Übers. geändert, G. U.]).[1] Denn durch den Instinkt kann die Psychiatrie nun „alle kleinen Unregelmäßigkeiten des Verhaltens“ pathologisieren und als anormal bestimmen: „Vom Begriff des Instinkts aus wird sich rund um das einstmalige Problem des Wahnsinns die gesamte Problematik des Anormalen, des Anormalen auf der Ebene der elementarsten und alltäglichsten Verhaltensweisen organisieren“ (Foucault 1974/75, S. 174 [Übers. geändert, G. U.]). Durch den „Instinkt“ wurde es erst möglich, dass sich die Psychiatrie über ihre Verbindung mit der Neurologie und einer Somatisierung in die Evolutionspathologie mit der Theorie der Degeneration als dem „Hauptstück der Medizinisierung des Anormalen“ einschreiben konnte (Foucault 1974/75, S. 174–177, 416 ff., vgl. Castel 1976, S. 290 ff.).
Die Sexualität wurde in dieser Verdachtshermeneutik dabei als krankheitsanfälliges Gebiet konstituiert und damit der Medikalisierung und Kontrolle Vorschub geleistet (vgl. Maasen 1998, S. 438 f.). Und während die Psychoanalyse zwar in dieses Misstrauen gehört, bricht sie mit dem Denken, die Zeichen auf die Degeneration hin zu lesen. Oder um es mit Davidson stärker zu formulieren: Indem es kein natürliches Objekt des Sexualtriebs mehr gibt für Freud, der Triebbegriff gerade gegen den Instinktbegriff eingeführt wurde und daher der Begriff der Perversion sinnlos wurde, hat Freud einen vernichtenden Schlag gegen die Sexualpathologien des 19. Jahrhunderts ausgeführt (Davidson 2001, S. 79 ff., 90). Foucault hält daher auch Freud zugute, dass er mit der ganzen Theorie der Degeneration und Entartung bricht, auf die der von Foucault thematisierte „instinct“ hinausläuft (vgl. Foucault 1976, S. 143).

Anmerkungen
* Vgl. für das Folgende Unterthurner (2015), 102-103.
[1] Im Französischen steht „instinct“, die deutsche Übersetzung verwendet leider „Trieb“; mit Muhle sei hier mit Instinkt übersetzt, da der freudsche Trieb, der im Französischen mit „pulsion“ übersetzt wird, davon abgesetzt werden muss (Muhle 2008, S. 209). Foucault ordnet zwar auch Freud beim Zugriff auf den „instinct“ ein (Foucault 1974/75, S. 176), den Todestrieb von Freud grenzt er jedoch ab vom „instinct de mort“ (Foucault 1974/75, S. 189).

Literatur
Arnold I. Davidson, Arnold I. (2001): The Emergence of Sexuality. Historical Epistemology and the Formation of Concepts, Cambridge, Massachusetts, Harvard University Press.
Castel, Robert (1976): Die psychiatrische Ordnung. Das goldene Zeitalter des Irrenwesens, Frankfurt/M., Suhrkamp 1979.
Foucault, Michel (1974/75): Die Anormalen. Vorlesung am Collège de France 1974-1975, Frankfurt/M., Suhrkamp 2003.
Foucault, Michel (1976): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/M., Suhrkamp 1977.
Maasen, Sabine (1998): Genealogie der Unmoral. Zur Therapeutisierung sexueller Selbste, Frankfurt/M., Suhrkamp.
Muhle, Maria  (2008): Eine Genealogie der Biopolitik. Zum Begriff des Lebens bei Canguilhem und Foucault, Bielefeld, transcript.
Unterthurner, Gerhard (2015): Normalisierungsmacht und Freiheit nach Foucault, in: Pravu Mazumdar (Hg.), Foucault und das Problem der Freiheit, Stuttgart, Franz Steiner Verlag, S. 89-117.

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