Die Anonymität ist bei Merleau-Ponty ein strukturelles und konstitutives Merkmal der Wahrnehmung. Dieses Merkmal hängt eng mit dem Merkmal der Unbestimmtheit aller Wahrnehmungserfahrungen zusammen. Beide Aspekte – Anonymität und Unbestimmtheit – ziehen sich durch das ganze Oeuvre Merleau-Pontys. Verantwortlich für die Anonymität zeichnet die Horizontstruktur der Erfahrung, der zufolge jede Erfahrung einen Erfahrungshorizont hat, also einen Bereich, der sich der direkten Erfahrung entzieht. Dies ist der anonyme Bereich der Wahrnehmung bzw. Erfahrung.
Die Herkunft des deutschen Wortes “anonym” gibt Auskunft über dessen nähere Bedeutung. Das Wort leitet sich vom griechischen “an ónyma” ab und bedeutet so viel wie “keinen Namen habend”, “namenlos”, “unbenannt”. Es handelt sich also beim anonymen Bereich der Wahrnehmung um einen Bereich, der noch nicht näher gekennzeichnet ist, um einen unbestimmten Wahrnehmungsbereich, der noch keine nähere Bestimmung erfahren hat. Gemäß der Phänomenologie kann man sich dieser Anonymität gar nicht entledigen. Vielmehr ist jede Wahrnehmung immer mit solchen anonymen und unbestimmten Wahrnehmungshorizonten ausgestattet. So heißt es auch bei Merleau-Ponty in der Phänomenologie der Wahrnehmung: “Jede Wahrnehmung findet in einer Atmosphäre von Allgemeinheit statt und gibt sich uns als anonyme” (PhW 253).
Man kann bei der Wahrnehmung drei Bereiche der Anonymität unterscheiden. (1) Zunächst kann von der Anonymität auf Seiten des Wahrnehmungsgegenstandes gesprochen werden. Der Gegenstand liegt nie transparent vor Augen. Er kann auch nie von allen Seiten gleichzeitig gesehen werden. Selbst der Grad der Aufmerksamkeit entscheidet über die Klarheit eines Gegenstandes. Vielmehr sind die Gegenstände in der lebensweltlichen Wahrnehmung anonym gegeben und erweisen sich sogar bei näherer Betrachtung als quasi undurchdringlich. Daher spricht Merleau-Ponty auch gerne von der Dichte, der Opazität und der Undurchdringlichkeit der Dinge. Es zeigt sich, dass dadurch der Gegenstand von einem Überschuss (frz. surplus) gekennzeichnet ist. Er bietet sich uns also zunächst anonym an. (2) Zweitens kann man von einer Anonymität auf Seiten des Wahrnehmungssubjekts sprechen. Darunter versteht man das eigentümliche Phänomen, dass das Subjekt im Prozess der lebendigen Wahrnehmung in den Hintergrund rückt. So fragt Merleau-Ponty: “Wer ist es, der dieses Rot wahrnimmt?” Und seine Antwort lautet: “Niemand, den man nennen könnte und unter andere Wahrnehmungssubjekte einreihen könnte” (PhW 511). Im Spätwerk Das Sichtbare und das Unsichtbare wird er hinzufügen: “Ich, das ist in Wirklichkeit ein Niemand, es ist das Anonyme” (SuU 310). Als Vollzugssubjekt bleibt das Subjekt der Wahrnehmung nämlich jenseits seiner Vergegenständlichung. Vom Standpunkt des phänomenalen Vollzugs der Wahrnehmung wäre Merleau-Ponty zufolge sogar zu sagen, dass “man” wahrnehme. Anstelle eines “Ich nehme wahr” wäre passenderweise “Man nimmt in mir wahr” zu sagen (vgl. PhW 253). Dieses Anonymwerden des Subjekts gleicht einer Art Entsubjektivierung oder Entpersönlichung, die eine Form der Dezentrierung darstellt, womit Merleau-Ponty mit seinem Begriff der Anonymität in die Nähe poststrukturalistischen Denkens rückt. Von hier aus ist es auch nur ein kleiner Schritt beispielsweise zu Michel Foucault, der in seiner Subjektkritik eine anonyme Dimension des Sprechens geltend macht (“Man sagt”, “Es spricht”). (3) Drittens wäre von einer “Anonymität des Man” (PhW 511) auszugehen, die sich in der sozialen Sphäre äußert. Es handelt sich hierbei um eine undifferenzierte Sphäre der sozialen Generalität, in der noch nicht zwischen Eigenem und Fremdem unterschieden ist – eine Unterscheidung, die in der vorobjektiven Sphäre der lebendigen Erfahrung noch nicht getroffen wird.
Die Anonymität der Wahrnehmung bei Merleau-Ponty ist nicht etwas Negatives, sondern etwas grundlegend Positives, das von der Phänomenologie sogar sehr ernst genommen werden muss. Sie gehört nämlich notwendig zum Vollzug der Erfahrung. Sie ist aber nicht nur Teil der Erfahrung, sondern auch für die Erfahrung konstitutiv, wie anfänglich gesagt wurde. Aus diesem Grund fordert er an zentraler Stelle seines Hauptwerks, und zwar im Vorwort seiner Phänomenologie der Wahrnehmung, diesem Aspekt unbedingt philosophisch Rechnung zu tragen: “Wir müssen uns entschließen, die Unbestimmtheit als positives Phänomen anzuerkennen” (PhW 25). Es käme also nicht darauf an, das Unbenannte durch Benennung aus der Anonymität herauszuführen, sondern die Anonymität als Anonymität – die Unbestimmtheit als Unbestimmheit – philosophisch zu fassen. Das Anonyme und Unbestimmte sind keine Mangelformen, sondern in ihrer Anonymität und Unbestimmtheit gewissermaßen Grundformen jeder Erfahrung. Vereinfacht gesagt: Es ist gut so, dass es die Anonymität in der Wahrnehmung gibt, weil sie es uns ermöglicht, überhaupt Wahrnehmung von etwas zu haben. Denn erst vor dem Hintergrund des (anonymen/unbestimmten) Horizonts kann sich ein Gegenstand in der Wahrnehmung abheben.
Eine prominente Kritikerin der anonymen Geschlechtlichkeit ist Judith Butler. Sie sieht im “anonymen Subjekt” das Fehlen eines sozialen Subjekts, weshalb man von Merleau-Pontys phänomenologischen Theorie der Geschlechtlichkeit nur bedingt profitieren könne (vgl. Butler 1997, S. 183). Eine andere amerikanische Philosophin, Shannon Sullivan, kritisiert Merleau-Pontys Konzept der Anonymität ähnlich. Mit der Anonymität ginge die Geschlechterdifferenz verloren (Sullivan 1997). Zu dieser Kritik haben wiederum Stoller (2000) und Weiss (2002) kritisch Stellung genommen und die Anonymität verteidigt.
Der Begriff der Anonymität in der Phänomenologie geht ursprünglich auf Edmund Husserl zurück, der die Horizontalität unter anderem mit den Adjektiv “anonym” umschrieb (vgl. Stoller 2008). Vom amerikanischen Soziologen und Maurice Natanson stammt eine Monografie zur Anonymität aus phänomenologischer Perspektive (Natanson 1986). Insbesondere aufgrund der phänomenologischen Soziologie mit Namen wie Maurice Natanson, Alfred Schütz und Peter L. Berger und Thomas Luckmann ist der Begriff über die phänomenologische Philosophie hinaus wichtig geworden.
Bis in die 1990er-Jahre hat man dem Begriff der Anonymität – selbst innerhalb der Merleau-Ponty-Forschung – wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Mittlerweile kann man auf eine Reihe einschlägiger Publikationen verweisen. Zum Stellenwert der Anonymität in Husserls Verständnis von Welt siehe Stoller (2008) und Heinämaa (2015). Die Anonymität für die Geschlechtertheorie fruchtbar gemacht hat Stoller (2010). Auch für Fragen der Intersubjektivität wird die Anonymität bei Merleau-Ponty herangezogen (Stawarska 2004). Zur Erweiterung des Verständnisses des Begriffs der Anonymität bei Merleau-Ponty lohnt es sich, folgende Studien zur Unbestimmtheit in der Tradition der Phänomenologie in Betracht zu ziehen: Eden geht es darum, die Unbestimmtheit als “positiven Grundzug menschlicher Kommunikation” auszuweisen (Eden 2017). Gamm hat sich bereits in den 1990er-Jahren auf die Spuren unterschiedlicher Philosophien der Unbestimmtheit gemacht und dieses Denken der Unbestimmtheit als Absetzbewegung von der Moderne interpretiert (Gamm 1994). Stoller hat Husserls und Merleau-Pontys Unbestimmtheitsidee mit der Geschlechtsidentität verknüpft (Stoller 2013).
Literaturverzeichnis
Butler, Judith (1997): Geschlechtsideologie und phänomenologische Beschreibung. Eine feministische Kritik an Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung. In: Silvia Stoller / Helmuth Vetter (Hg.): Phänomenologie der Geschlechterdifferenz. Wien: WUV Universitätsverlag, S. 165–186.
Gamm, Gerhard (1994): Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang aus der Moderne. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Eden, Tania (2017): Das Phänomen einer positiven Unbestimmtheit. München: Wilhelm Fink.
Heinämaa, Sara (2015): Anonymity and Personhood. Merleau-Ponty’s Account ot the Subect of Perception”. In: Continental Philosophy Review 48/2, S. 123–142.
Merleau-Ponty, Maurice (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. Übers. von Rudolf Boehm. Berlin: Walter de Gruyter [zit. als PhW].
Natanson, Maurice (1986): Anonymity. A Study in the Philosophy of Alfred Schutz. Bloomingston, Indianapolis: Indiana University Press.
Stawarska, Beata (2004): Anonymity and Sociality: The Convergence of Psychological and Philosophical Currents in Merleau-Ponty’s Ontological Theory of Intersubjectivity. In: CHIASMI International 5, S. 295–309.
Stoller, Silvia (2000): Reflections on Feminist Merleau-Ponty Skepticism. In: Hypatia. A Journal of Feminist Philosophy 15/1, S. 175–182.
Stoller, Silvia (2008): Anonymität als Bestimmung von Welt. In: Günther Pöltner / Martin Wiesbauer (Hg.): “Welten” – Zur Welt als Phänomen. Frankfurt/Main: Peter Lang, S. 51–68.
Stoller, Silvia (2010): Anonyme Geschlechtlichkeit. In dies.: Existenz – Differenz – Konstruktion. Phänomenologie der Geschlechtlichkeit bei Beauvoi, Irigaray und Butler. München: Wilhelm Fink, S. 219–246.
Stoller, Silvia (2013): The Indeterminable Gender. In: Janus Head 13/1 (Winter/Spring 2013), Special Volume: Interdisciplinary Feminist Phenomenology, hg. von Eva Simms und Beata Stawarska, S. 17–34. URL: http://www.janushead.org/13-1/stoller.pdf.
Sullivan, Shannon (1997): Domination and Dialogue in Merleau-Ponty’s Phenomenology of Perception. In: Hypatia. A Journal of Feminist Philosophy 12/1, S. 1–19.
Weiss, Gail (2002): The Anonymous Intentions of Transactional Bodies. In: Hypatia. A Journal of Feminist Philosophy 17/4 (August 2002), S. 187–200.