Lacan phänomenologisch lesen

Guy-Félix Duportail hat eine phänomenologische Lektüre von Lacan vorgelegt. Ich habe seinen Versuch überzeugend gefunden, obwohl ich das Werk von Lacan nicht wirklich kenne. Die folgenden Überlegungen sollten als die ersten Ergebnisse einer ziemlich chaotischen Lektüre gesehen werden, also als Anregungen und in keinem Fall als ausgereifte Thesen.
Eine zentrale Schwierigkeit besteht darin, die formale Topologie vom späten Lacan mit Fleisch und Tiefe zu ergänzen, und dabei die Phänomenologie des Leibes bei ihm einzuführen. Duportail schreibt z.B.: “[D]ie phänomenologische Gegebenheit des Fleisches ist es, die der topologischen Mathematik des Begehrens ihren Sinn gibt” (Duportail 2013, 39). Und weiter unten: “Es macht keinen Sinn, das Wort Körper (le corps) zu benutzen, um von einer der Konsistenzen des borromäischen Knotens zu sprechen, wenn man nicht voraussetzt, dass der borromäische Raum ein phänomenaler Raum ist” (ebd.). Also, Lacan spricht von phänomenalen Gegebenheiten, wie Körper, Genießen, Angst usw., und deshalb sollten seine formalen Überlegungen etwas über die erlebte Wirklichkeit aussagen.
Der Körper wird tatsächlich als eine Konsistenz des borromäischen Knotens von Lacan etwa in der Vorlesung “Die Dritte” (Rom, 1974) dargestellt. Da werden das Imaginäre und der Körper gleichgestellt. Aber es gibt bei Lacan keine Beschreibung oder Theorie des Körpers als solchen. Der Körper bei Lacan ist am Rande – “die Frage der Verkörperung des Knotens bleibt rätselhaft” schreibt Duportail (ebd., 46). Was Lacan genau mit dem Begriff “corps” meint, ist unklar.
Die Herausforderung von Duportail ist, zu zeigen, woraus der Körper eigentlich besteht, damit er seine Rolle im Knoten zusammen mit dem Symbolischen und dem Realen spielen kann. Oder mit anderen Worten, es geht um die Fähigkeit des Körpers, affiziert zu werden. Und da spielt das Geniessen eine entscheidende Rolle. Der Satz von Lacan über das Genießen und den Körper ist bekannt: “Un corps ça se jouit” (LAcan 1975, 33). “Ein Körper, das genießt sich”. Wie erscheint dann der Körper als geniessendes Wesen?
Der Körper erscheint in der widersprüchlichen Bewegung des Genießens: eine Bewegung, die  ins Unendliche führt, aber die dann auch vom Knoten begrenzt wird. Das Genießen erscheint bei Lacan als eine Bewegung, die danach strebt, eine unerreichbare Situation zu erlangen. Dieses Unerreichbare wird vom Objekt a im Zentrum des borromäischen Knotens dargestellt, und als Mehrlust (plus-de-jouir) bezeichnet. Der Knoten begrenzt das Überlaufen des Genießens. Also ein Körper, der “sich genießt”, ist ein Wesen, das aus dieser Spannung lebt.
Die These von Duportail ist, dass der Körper vom Körperschema im Sinne von Maurice Merleau-Ponty und Paul Schilder beschrieben werden soll, dass im Körperschema die Dynamik der Triebe eingefügt ist und dass deshalb das Genießen die Verbindung zwischen dem Körper und der sinnhaften Welt darstellt.

Literatur:
Duportail, Guy-Félix (2013): L’Origine de la psychanalyse, Milano: Éditions Mimesis.
Lacan, Jacques (1975): Le séminaire de Jacques Lacan. Livre XX. Encore (1972–1973), Paris: Seuil.

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