Rein und raus

Ich danke für die Einladung, bei diesem außerordentlich beeindruckenden Jubiläum des Hebammenzentrums sprechen zu dürfen. Diese Einladung freut mich umso mehr, als ich nicht prädestiniert bin, heute hier zu sprechen. Denn als Psychoanalytikerin bin ich nicht für das Gebären von Kinder zuständig, sondern für die Entstehung und die Geburt von bzw. das Nachdenken über Phantasien. Ich kann daher eher Unvernünftiges als Vernünftiges beitragen. “Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer”, steht auf einer Radierung von Francisco de Goya. Und so werde ich nun von Ungeheuerlichkeiten sprechen, die so manche Vorstellung von Geburt und Gebären begleiten. (Dieser Text wurde im Rahmen des FWF-Projekts P25977-G22 ausgearbeitet und beim Festakt Allerhand. 30 Jahre Hebammenzentrum am 17.5.2019 vorgetragen. Einzelne Passagen wurden überarbeitet und veröffentlicht unter  Ulrike Kadi: Körper (noch) ohne Geschlecht? Zur Ausstellung Flying High. Künstlerinnen der Art Brut, in: RISS 91/2019, 139-143.)
Betrachten Sie folgendes Gemälde von Jan van Eyck aus dem Jahr 1434, das unter dem Titel Die Arnolfini-Hochzeit bekannt ist. Es ist ein oft kommentiertes Werk der Londoner National Gallery, und obwohl es so bekannt ist, ist vieles daran ist unsicher: Es ist nicht klar, ob es die Arnolfinis sind, es ist nicht sicher, ob es sich um eine Hochzeit oder eine Verlobung handelt oder ob die rechts stehende Frau vielleicht gar nicht Giovanna Arnolfini, sondern die ein Jahr vorher verstorbene erste Frau von Giovanni Arnolfini, nämlich Costanza Trenta ist, und der Schleier ihren Status als längst verheiratete Frau anzeigt. Vor allem aber weiß niemand, ob die Frau mit dem großen grünen Bauch tatsächlich schwanger ist. Sie wurde in der Literatur zu diesem Bild bisweilen als schwanger bezeichnet. Doch es war damals durchaus üblich, die Fruchtbarkeit von Frauen mittels der Rundungen von Gewändern und Stoffen zu unterstreichen, sodass unter KunsthistorikerInnen heute Einverständnis darüber besteht, dass sie nicht schwanger ist.
Für das, was ich heute sagen möchte, ist es genau diese Unklarheit – ist die Frau schwanger, ist sie nicht schwanger – die wichtig ist. Denn sie bildet den Ausgangspunkt von einer Reihe von Phantasien. Phantasien sind vor allem dort wichtig, wo wir etwas nicht sehen, nicht verstehen, nicht wissen. Was den Bauch einer Schwangeren betrifft, ist es nicht nur die Unklarheit,, was drin ist im Bauch, sondern ebenso sehr die Fragen, wie das, was drin ist, reingekommen ist und wie es wieder herauskommen kann. Mit solchen Fragen sind wir alle, bewusst und unbewusst, immer wieder beschäftigt seit einer frühen Zeit in unserem Leben – Sigmund Freud hat entdeckt, dass Sexualität und die damit einhergehenden Themen von Schwangerwerden, Schwangersein oder Gebären zum alltäglichen Gedankenrepertoire von sehr kleinen Kindern gehören. Die Phantasien, die dabei entstanden sind, wirken unbewusst weiter. Wir können von ihnen hören in Behandlungen, wir können sie selbst erleben in Träumen, wir können von ihnen erfahren in politischen Diskussionen, und wir können sie sehen in Produktionen der Kunst.

1 Was ist drin im Bauch?
Wenn wir etwas nicht sehen können, lässt es sich vielleicht hören. Der Künstler Bernhard Leitner erinnert mit seiner Arbeit Körper-Hören, einer Ton-Raum-Skulptur aus 1975, an eine Zugangsmöglichkeit, die auch das Pinardsche Hörrohr, das Hebammenstethoskop bietet, nämlich das Hineinhorchen in den Körper. Das Hebammenstethoskop ermöglicht es, die Herztöne des Kindes zu hören. Leitner betrachtet den Körper als einen Hörraum. Er unterscheidet ein nach Innen und ein nach Außen gerichtetes Hören. Der Raum, sein Zustand, bestimmt mit, was wir hören. „… Die Helligkeit beeinflußt das Hören. Das Hörverhalten ändert sich sofort, wenn man einen dunklen Raum betritt.“ (Leitner 1985) In seiner Installation wird Audiotechnik wie in der Geburtshilfe verwendet, um das Innere auszuhorchen. Es wird dem Bauchraum, in dem es dunkel ist, etwas abgelauscht. Auch wenn es kein offensichtlich schwangerer Bauch ist, ist es doch immerhin der Bauch einer Frau.
Aus einem gehörten Bauch ist in der Medizin der letzten fünfhundert Jahre ein gesehener Bauch geworden. Seit einigen Jahrzehnten werden Hören und Sehen sogar miteinander verknüpft. Während es 100 Jahre nach den Arnolfinis, zu Beginn des 16. Jahrhunderts, gezeichnete Einblicke in sezierte Körper waren, haben wir es heute oftmals mit Hörbildern im wahrsten Sinne des Wortes zu tun, in visuelle Zeichen umgewandelte akustische Signale, die auf Ultraschallbildern einen Einblick vermitteln, was tatsächlich drin ist im Bauch. Auch in zeitgenössischen Kunstwerken tauchen solche Ultraschallbilder auf, z.B. in Martha Roslers Video Born to be sold. The strange Case of Baby S/M, einen Film, der eine Leihmutterschaft in den USA im Kontext von Klassendifferenzen dokumentiert am Beispiel einer Leihmutter, die sich von dem von ihr ausgetragenen Kind nicht trennen will.
Für den hier gesuchten Inhalt der Gebärmutter ist ein Filmstill wichtig, in welchem Rosler einen erwachsenen Kopf in den Eierstock eines Ultraschallüberblicksbildes setzt. Das überrascht ein wenig. Denn wir sind es von unserem bewussten, an Disziplinen wie der Biologie geschulten Wissen her nicht gewohnt, erwachsene Personen im Bauch einer Frau zu treffen. In der Phantasie ist das jedoch keine ungewöhnliche Vorstellung, wie mir eine Patientin vor Kurzem demonstrierte. Sie war aufgebracht zu Beginn einer Stunde, weil sie mich am Ende der letzten Stunde niesen gehört hatte. Es sei ihr vorgekommen, als hätte ich sie damit, wie sie sich ausdrückte, „herausgeniest“. Als ich meinte, dass sie ja dann vorher in mir drin gewesen sein müsse, meinte sie, das sei zwar eine etwas sonderbare Vorstellung. Aber ja, so sei es gewesen. Sie hätte das wohl so empfunden.
Feministische Künstlerinnen haben in den letzten Jahrzehnten die Vorstellungen darüber erweitert, was in einem Frauenbauch drin sein kann, vor allem aber auch wie mit ihm privat wie politisch umzugehen ist. Nach dem Kampf um das Wahlrecht für Frauen Anfang des 20. Jahrhunderts, dem Kampf um Gleichberechtigung der Frau in der Arbeitswelt, waren es vor allem Kämpfe um den Körper der Frauen, die die Lebenssituationen von Frauen in unseren Breiten verändert und auch verbessert haben (vgl. Froidevaux-Metterie 2018, 15ff.). Birgit Jürgensen bringt 1975 in ihrer Arbeit Hausfrauen-Küchenschürze zwei Aspekte dieses Kampfes zur Sprache. Indem sie eine überdimensionierte Schürze in Form eines großen Backofens vor ihren Bauch hängt, werden Phantasien über das Innere des weiblichen Körpers mit Phantasien über die Arbeit von Frauen miteinander fusioniert. Der Laib Brot, der aus dem Ofenrohr hervorschaut, ist nicht nur Produkt einer Küchen- und Hausfrauenarbeit, sondern verkörpert symbolisch auch ein Kind, ein Ergebnis von reproduktiver Frauenarbeit, die jahrhundertelang selbstverständlich das Leben von Frauen bestimmt hat.
Renate Bertlmann rückt 1978 anders als Jürgenssen unheimliche, ja destruktive Anteile von Schwangerschaft und Geburt in den Vordergrund in ihrer Performance Die schwangere Braut im Rollstuhl. Die mit Präservativen und Schnullern an Kopf und Händen ausgiebig bestückte Braut, die hinter einer Gesichtsmaske verborgen bleibt, präsentiert sich als eine verfügbare Gebär- und Säugemaschine. Die schwangere Rollstuhlfahrerin bringt in der Performance ihr Kind zur Welt, um es wenig später zurückzulassen und damit die Unvereinbarkeit von Mutterschaft und Künstlerberuf zu unterstreichen. Anders als Carolee Schneemann, später Valie Export, Marina Abramovic oder Elke Krystufek setzt Bertlmann ihren Körper nicht nur hier bekleidet, verkleidet ein. Sie zieht bis heute eine deutliche Grenze um ihren nackten Körper, den sie einer privaten Intimität vorbehält (Bertlmann Interview 25. Februar 2016).
Der (nackte) Bauch der Frau ist seit mehr als 50 Jahren ein Gegenstand politischer Verhandlungen. Mit den beiden Slogans „Mein Bauch gehört mir“ und „Das Private ist politisch“ lässt sich die Breite der Forderungen andeuten. Während die beiden Darstellungen von Bertelmann und Jürgenssen vor allem das Recht von Frauen auf ihren eigenen Körper unterstreichen, rückt die zweite Forderung nach einer öffentlichen Wahrnehmung der lange als vor allem privat angesehenen Körper schwangerer Frau erst in den 90ger in den Fokus des öffentlichen Interesses. Ein von Anni Leibovitz fotografiertes Bild der schwangeren Demi Moore auf dem Magazin Vanity Fair lässt sich als Beginn jener öffentlichen Thematisierung des Bildes von schwangeren Frauenkörpern datieren.
Cindy Shermans Pregnant Woman aus demselben Jahr nimmt diese Veränderung auf. Die Performancekünstlerin stilisiert sich schwanger – übrigens über Brust und Bauch maskiert wie Bertlmanns Braut. Durchsichtig und zerrissen bekleidet, präsentiert Sherman einen unzweifelhaft schwangeren Bauch, als würde sie Demi Moores Darstellung karrikieren. Die Frage nach dem, was im Bauch drin sein könnte, rückt in den Hintergrund. Die Lippen, der Blick, die Inszenierung sprechen eine verführerische Sprache. Das Bild der Frau, die Oberfläche bildet das Zentrum. Die Schwangerschaft wirkt wie ein Anhängsel. Wie in Jürgenssens Schwangerem Schuh thematisiert, scheint die Schwangerschaft vor allem die erotische Potenz der Schwangeren zu steigern. In dieser Wende hin zu einer verstärkten öffentlichen Präsentation von Schwangerschaft wird eine weitere Phantasie zum Ausdruck gebracht. Mit selbstgebackenen Broten, eingenähten Schuhanhängseln oder dem Bild ihres eigenen Körpers vermitteln diese Kunstwerke eine innige Verbindung zwischen den Schwangeren und dem, was in den Bäuchen drin ist – gerade so, als würden sie sagen, die Schwangerschaft, das bin ich.
Bertelmanns unheimliches Bild weist auf etwas anderes hin, was auch die psychoanalytische Erfahrung zeigt: Der mütterliche Körper und insbesondere der Bauchraum der Mutter, ob schwanger oder nicht, ist ein Tummelplatz von wilden Phantasien ist. Melanie Klein hat bei ihren PatientInnen, die zum Teil noch kleine Kinder waren, beobachtet, dass sie den mütterlichen Körper nicht nur mit Geschwistern und Eltern, sondern auch mit anderen Körperteilen, mit Penissen, Brüsten und mit verschiedenen anderen zum Teil zerbissenen, ja zerstörten Körperteilen bevölkern. In der Psychoanalyse werden solche Phantasien als Folge eines frühen Konflikts verstanden zwischen libidinösen und destruktiven Anteilen des triebbestimmten psychischen Lebens.
Diese Anteile spielen nicht nur im Leben kleiner Kinder eine Rolle. Valie Export gibt ihnen Raum in ihrer frühen Arbeit Tapp-und Tastkino. Statt Jürgenssens Brotbackofen trägt sie auf Photos von dieser legendären Aktion – etwas höher am und um den Rumpf befestigt – eine Kiste mit einem Vorhang. Sie bewegt sich mit dieser Einrichtung durch eine Fußgängerzone und lädt ein zum Tasten auf ihrem nackten Oberkörper. Fotografisch ist eine Reihe von Triebaspekten festgehalten, die vom Voyeurismus der Umgebung über beschämte Vorsicht bis hin zu pervers anmutender Erregung derjenigen reichen, die nach zwei vom Körper der Künstlerin visuell abgetrennten Brüste greifen. Die Bilder lassen etwas erahnen von liebevollen wie von zerstörerischen Besetzungen der Körperteile, die in den Körper der Mutter hineinphantasiert werden. Auf dem Ausschnitt aus Aloises Corbaz‘ Breviario Grimani, einer von Jean Dubuffet entdeckten Art brut Künstlerin findet sich die Phantasie der Brüste, die in den Körper geraten sind, ausgestaltet. Der Körper als Gefäß enthält sie hier. Diese abgetrennten Bruststücke scheinen aufs Erste weniger angstbesetzt zu sein als das, was Patricia Piccinini in ihrer Arbeit Newborn darstellt. Piccinini zeigt das Neugeborene als eine Chimäre, als ein Mischwesen zwischen Tier und Mensch. Ob es solche Angstvorstellungen sind, die Bertelmanns Braut im Rollstuhl quälen?

2 Wie kommt in den Körper hinein, was in einem schwangeren Bauch drin ist?
Diese Frage hat mehrere Facetten. Sie umfasst Vorstellungen über den Weg, der ins Innere führt und Vorstellungen über Ereignisse, die vorher stattgefunden haben müssen. Psychoanalytisch gesprochen, geht es dabei einerseits um das Körperbild und andererseits um die sogenannte Urszene.
Im Hebammenzentrum vermutlich seltener als im Bereich einer Kinderwunschambulanz ist erstaunlich häufig ein Unwissen darüber anzutreffen, welche Wege wo und wohin in den Körper führen – ähnlich wie bei Kiyonori Shimadas Arbeiten über das Nachaußenverlagern von internen Erinnerungen, in der der über die Öffnungen erreichbare Ort unbeschrieben bleibt. Am Körper gibt es eine Reihe von Öffnungen, die sich anbieten, um hineinzugelangen. Die erste ist der Mund. Er und mit ihm das Saugen stehen am Beginn jeder psychischen Entwicklung. Beim Trinken an der Brust wird bekanntlich nicht nur Nahrung aufgenommen. Beim Saugen wird die Brust, ja die ganze Mutter einverleibt. Unbewusst kommt es später zu einer Gleichsetzung der Brust mit dem Penis. Auf solche frühen Vorstellungen bauen Phantasien auf, die auch die Empfängnis mit dem Mund verknüpfen. Der Mund prägt dabei bisweilen die Vorstellungen über das eingebrachte Material wie in einem Traum einer meiner Patientinnen, in welcher Befruchtung über den Mund nicht mit Sperma, sondern – zwar verkehrt, aber doch mundzonengerecht – mit Erbrochenem dargestellt war. Auch die Bezeichnung Muttermund für die Öffnung zwischen Scheide und Gebärmutter ist ein Hinweis, dass auch kollektive von einem engen Konnex zwischen dem Mund, der Empfängnis und dem Gebären ausgehen.
Die christliche Mythologie hält einen anderen Vorschlag zur Empfängnis über eine nichtgenitale Körperöffnung bereit, wenn sie von der Empfängnis der Jungfrau Maria durch das Ohr spricht. Der englische Psychoanalytiker Ernest Jones ist diesem Motiv genauer nachgegangen. Die Befruchtung wird häufig als eine Taube dargestellt, die vom göttlichen Mund ausgehend, wie ein Wortstrom, ein Lichtstrahl oder ein Hauch in das Ohr von Maria eindringt. Im Tympanon einer Marienkapelle in Würzburg findet sich ein solcher Vorgang dargestellt. Die Taube ist ganz nahe an Marias Ohr zu sehen. Jones weist auf eine überraschende Genese hin, die der Atem in dieser Anordnung hat (vgl. auch für das Folgende Jones 1914). Obwohl es uns zunächst direkt einleuchtend erscheint, dass der Atem als Metapher für das Leben selbst steht, stellt sich bei genauerer Betrachtung heraus, dass die kindlichen und unbewussten Wurzeln dieses bewussten Zusammenhangs andere sind. Denn die kindliche Ideenkette, die es für eine langlebige unbewusste Phantasie braucht, verläuft entlang jener Affekte, die für Kinder bedeutsam sind. Sie nimmt deshalb bei den elterlichen Darmgasen ihren Ausgang. Kleine Kinder haben ein großes Interesse für die Ausscheidungsfunktionen von Erwachsenen. Dabei bildet sich unter anderem die Idee, dass es väterliche Furze sind, die über das Ohr der Mutter in deren Bauchraum gelangen und dort zur Entstehung weiterer Kinder geführt haben.
Die der Scheide enger als Ohr und Mund benachbarten Öffnungen der Harnröhre und des Afters sind Beispiele für weitere phantasiebeladene Löcher am Körper mit möglichen sexuellen und schwangerschaftsbezogenen Bedeutungen. In der psychischen Entwicklung wird die Scheide dem Darm, wie Freud es ausdrückt, „abgemietet“. Aus einer früheren Kloakenvorstellung bildet sich das Konzept einer eigenständigen, genitalsexuell bedeutsamen Öffnung. Dennoch bleiben Scheide und innere weibliche Geschlechtsorgane auch für Frauen oft ein dunkler Kontinent. Ähnlich wie auf Hannah Höchs Kollage Siebenmeilenstiefel (1934) ist die Gestalt des eigenen Körpers hinter und unter Phantasievorstellungen verborgen. In der psychosomatischen Frauenambulanz kommt es immer wieder vor, dass wir mit Patientinnen über die Lage und Funktion verschiedener anatomischer Strukturen der Genitalregion sprechen. Manchmal nutzt meine Kollegin Katharina Leithner-Dziubas dazu ein Kunstharzmodell, um die verschiedenen Öffnungen mit inneren Organstrukturen zu verknüpfen.

Abbildung 1: Sigrid Reingruber, Ohne Titel (2008) (Brugger e.a. 2019, 209)

Auch Künstlerinnen treten als Aufklärerinnen und Reisebegleiterinnen in diesen dunklen Kontinent auf, wie Sie hier an einzelnen Arbeiten von Hannah Wilkes, von Frances Phoenix oder von Sigrid Reingruber (Abb. 1) sehen können. Das weibliche Genital ist für seine Trägerin zunächst vor allem unsichtbar. Es ist ein Tastorgan, ein betastetes Organ, das Frauen an sich selbst mit eigenen Augen nur mithilfe eines Spiegels sehen können. Eine äußere Berührungsqualität rückt bei Wilkes und Phoenix durch die Wahl des Materials in den Vordergrund, während Reingrubers Darstellung eine energetische Aufladung um ein mehrfältiges Zentrum herum hervorhebt. Bemerkenswert ist bei den ersten beiden Arbeiten auch deren blumige Gestaltung, als ginge es darum, die ästhetisch schöne Qualität dieser Körperregion besonders hervorzuheben. Reingrubers Bild deutet die dunkle Seite an, die es mit blumigen Formen vielleicht auch zu überformen gilt, wenn sie mit den drei roten Zähnen an vagina dentata Vorstellungen anschließt. Die Scheide war und ist kulturell auch als etwas Gefährliches codiert, denn sie könnte – hierin übrigens auch wieder in ihrer Verbindung zum Mund gedacht – beißen.
Die zweite Form von Phantasien in Zusammenhang mit dem Hineinkommen in den mütterlichen Körper betrifft die sogenannte Urszene. Diese auch als Urphantasien bezeichneten Vorstellungen, die sich an den elterlichen Geschlechtsverkehr knüpfen, bleiben trotz aktueller Veränderungen in den Reproduktionstechnologien (Stichwort IVF, Leihmutterschaft) weiterhin wichtig. Ihren psychisch bedeutsamen Ort von Urphantasien hat Freud in seiner Behandlung des Wolfsmanns erkannt, bei dem sich übrigens auch der Darm des beobachtenden Kindes in die Urszene eingemischt hat. Der Wolfsmann erinnert eine frühe Wahrnehmung des Geschlechtsverkehrs zwischen seinen Eltern, er erinnert sich an Gewaltsames, an die Aufregung, als den Eltern klar wurde, dass sie gesehen werden, auch, dass er in der Miterregung in die Hose gemacht hat. Kunstwerke machen aufmerksam, dass die Urszene – ob gesehen oder auch nur phantasiert – einen Knotenpunkt in der Entwicklung darstellt. Die Urszene fordert das beobachtende Kind auf, zu unterscheiden. Liegt da, so wie hier bei Dorothea Tannings Skulptur Nue couchée, mehr als eine Person? Ist da noch jemand außer der Mutter? Vielleicht ist es, wie Tanning in ihrer Arbeit Rainy Day Canapée vorschlägt, ein Möbelstück, mit dem die Mutter gerade etwas hat. Was immer es ist, das eine lässt sich nicht vom anderen trennen.

Abbildung 2: Jacqueline Bartes, Femme couchée (1969) (Brugger e.a. 2019, 87)

Jacqueline Barthes‘ Femme couchée (Abb. 2) bleibt hingegen getrennt von der zweiten Figur, als würde das beobachtende Kind phantasieren, dass die beiden sicher nichts verbindet. Wer ist der zweite, mit dem die Mutter und das sich mit der Mutter identifizierende Kind im Bett liegen? Piccinini betont die Fremdartigkeit der hinzu kommenden Person, wenn sie den Sexualpartner wiederum chimärenhaft als tierischen Eindringling darstellt. Eine realitätskonformere Variante der Phantasie bringt Louise Bourgeois in den vielfach wiederholten Skizzen eines Paares mit einem Kind zum Ausdruck, wobei die Wiederholung des blutfarben gehaltenen Motivs wie ein Zeichen funktionieren kann für die Schmerzhaftigkeit der Erkenntnis des Kindes, ausgeschlossen zu sein von einer lustvollen und höchst bedeutsamen Erfahrung seiner Mutter, seiner Eltern und dessen, was da im Bauch der Mutter ist.

3 Wie kann wieder herauskommen, was drin ist im Bauch?
Mit dieser Frage stehe ich als Psychoanalytikerin im Hebammenzentrum an der Grenze meiner eigenen Möglichkeiten. Denn wie Geburt von Kindern geht, das wissen Sie hier alle sehr viel besser und genauer als ich. Was ich zum Abschluss noch beitragen kann, sind wiederum Phantasien, die das Herauskommen aus dem Inneren, die Geburt bisweilen begleiten. Sie haben zu tun damit, wie das, was im Inneren gewachsen ist, phantasiert und gedacht wird. Beim Herauskommen wird die Frage einer Trennung aktualisiert, die in Tannings Sitzmöbelurszene dargestellt ist. Auch Judith Chicago setzt Verstrickungen in ihrem Birth Project ins Bild. Valie Export nimmt einmal mehr die Perspektive der Mutter ein, wenn sie in der Arbeit Geburtenmadonna zusammenstellt, was alles herauskommt bei einer Geburt. Was wird an Phantasien mitgeboren? Außerdem vermittelt sie mit dieser Collage: Geboren kann überall werden. Ähnlich sieht es auch die Art brut Künstlerin Marilena Pelosi, die einen ganzen Spielplatz voller etwas seltsam anmutender Geburten (Abb. 3) zeichnet.

Abbildung 3: Marilena Pelosi, ohne Titel (2007) (Brugger e.a. 2019, 183)

Es werden hier ausschließlich Frauen geboren. Sie kommen aus den Halsausschnitten von Hemden und Pullovern. Der genitale Ort einer Geburt ist der Künstlerin offenbar nicht klar oder nicht wichtig. Sie zeigt Kopfgeburten. Außerdem sind es durchwegs Erwachsene, die hier geboren werden. Das verbindet ihr Bild mit einem bekannten Bild von Frieda Kahlo. Kahlo hat diese Darstellung My Birth genannt. Zu sehen eine Geburt bei einer Gebärenden, deren Kopf verhüllt ist, als wäre sie ganz in das Phantasieren versunken. Kahlos Gemälde betont den Zusammenhang, der zwischen der eigenen Geburt und der Geburt eines Kindes besteht. Sie zeichnet eine Linie, die genealogisch zur eigenen Mutter reicht, deren Portrait am Kopfende des Bettes hängt. Die eigene Geschichte wird ebenso wirksam wie die noch unbekannte Zukunft, in welcher die Gebärende eine andere sein wird, eine, die von ihrem Kind körperlich getrennt ist, was zur Bildung anderer, neuer Phantasien führen wird.
Phantasien über Phantasien. Kein Ende in Aussicht. Ich möchte Sie nun wieder Ihren eigenen Phantasien überlassen, nicht ohne, dass ich meine große Gratulation ausgesprochen habe an die Hebammen des Hebammenzentrums, Gratulation dazu, dass sie es immer neu ermöglichen, neben den Phantasien auch Kinder auf die Welt zu bringen. Möge das in den kommenden dreißig Jahren weiter so gut gelingen wie bisher.

Literatur:
Brugger, Ingried / Hannah Riegler, Veronika Rudorfer (2019): Flying High. Künstlerinnen der Art Brut. Heidelberg: Kehrer.
Froidevaux-Metterie, Camille (2018): Le corps des femmes. La bataille de l’intime. Paris: Philosophie magazine Éditeur.
Jones, Ernest (1914): Die Empfängnis der Jungfrau Maria durch das Ohr. Ein Beitrag zu der Beziehung zwischen Kunst und Religion. In: Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschung 6(1), 135-204.
Leitner, Bernhard (1985): Der hörbare Raum. Daidalos 17. Siehe unter https://www.bernhardleitner.at/texts/indexLoadItem/25 (25.6.2019)

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