Genealogie

Mit dem Begriff der Genealogie [1] situiert sich Foucault in der Tradition Nietzsches, der diesen Begriff zu einem philosophischen Begriff gemacht hat und damit eine der beiden Traditionslinien gestiftet hat, die mit diesem Begriff verbunden sind: Denn man kann mit Odo Marquard eine legitimierende von einer kompromittierenden Genealogie unterscheiden oder
mit anderen Autoren eine weiße von einer schwarzen (Marquard 1974; Saar 2003: 173; vgl. Saar 2007). In der legitimierenden wird die Genesis von etwas herangezogen, um es zu legitimieren und zu begründen, in der kompromittierenden, für die die Namen Nietzsche und Foucault stehen, wird die Genesis herangezogen, um Selbstverständlichkeiten infrage zu stellen bzw. zu zerstören. »Die Erforschung der Herkunft«, wie es Foucault in »Nietzsche, die Genealogie, die Historie« (1971) formuliert – wobei Herkunft der Suche nach einem metaphysischen Ursprung oder einem erhabenen und großen Anfang entgegengesetzt wird –, »schafft keine sichere Grundlage, sie erschüttert, was man für unerschütterlich hielt; sie zerbricht, was man als eins empfand; sie erweist als heterogen, was mit sich übereinzustimmen schien« (Foucault 1971: 173).[2] So geht die Genealogie nicht in die Vergangenheit zurück, um eine Kontinuität zu sichern, eine Erinnerung zu bekräftigen oder ein »Schicksal eines Volkes« oder eine Identität zu legitimieren, sondern sie richtet sich auf die vielfältigen Ereignisse und entdeckt, dass »an der Wurzel dessen, was wir erkennen und was wir sind, nicht die Wahrheit und auch nicht das Sein, sondern die Äußerlichkeit des Zufalls« (Foucault 1971: 172) ist. Die Genealogie liefert so kein Fundament, sondern führt in einen entregelten Bereich, eine anarchische Zeitlichkeit, zurück (Liebsch 1996). Die Genealogie der Vernunft in der Tradition Nietzsche und Foucaults ist daher eine radikale Vernunftkritik in dem Sinne, dass die Geschichte, die dabei erzählt wird, vor allem den kontingenten, umkämpften und »niederen Charakter« (Foucault 1974: 677) der Herkünfte, die Unreinheit betont, die Verflechtung von Wissen mit bestimmte Machtpraktiken (z. B. die Verflechtung der Humanwissenschaften mit Praktiken der Überwachung und Disziplinierung). Eine Genealogie in diesem Sinne ist daher kein kein Rückgang auf große Anfänge, um sich der eigenen Identität zu versichern, sondern eine Dezentrierung der eigenen Identität und eine Kritik nachträglichen Teleologisierens (Foucault 1971: 179 f.; Geuss 2002: 278 ff.). Damit ändert sich auch das Verhältnis von Vernunft und Negativität, wie Gerhard Gamm ausführt: Negativität wird nicht mehr in einer Totalität aufgehoben und verharmlost: »Fällt der logozentristische Legitimationsrahmen in der Konstitution des abendländischen Vernunft/Seele-Begriffs hinweg, so kommt augenblicklich – wie jene Selbstkritik logozentristischer Vernunft von de Sade und Nietzsche bis Foucault und Levy zeigt – der durch die spekulative Gleichsetzung von Vernunft und Wirklichkeit verdeckte Konstitutions/Produktionszusammenhang von Macht und Wirklichkeit an die Oberfläche« (Gamm 1985: 150). Wenn Foucault daher so sehr den Macht- und Herrschaftsaspekt stark macht, so geht es ihm vor allem darum, den verschiedenen Geschichtskonstruktionen, vor allem denen hegelscher Provenienz, die auch nicht unbedingt wissen müssen, dass sie immer noch auf den Spuren Hegels denken, einen Riegel vorzuschieben, denn diese Konzeptionen verharmlosen die Geschichte und stülpen ihr einen Sinn über.
Genealogien sind nun eine Spielart der Kritik und zeichnen sich nach Martin Saar durch mehrerlei aus: Sie sind eine besondere Weise, Geschichte zu schreiben. Es sind dabei Geschichten, wie das moderne bzw. abendländische Subjekt in bestimmten Wissens- und Machtpraktiken entstanden ist, und dieser Konnex von Macht und Subjektivität ist der entscheidende. D. h. nicht jede Historisierung ist eine Genealogie. Zweitens eröffnet diese Historisierung den Raum für Wertfragen, eine Genealogie ist nie neutral, sondern fragt nach dem Preis verschiedener Rationalitäten, aber auch nach dem Effekt. Es sind keine katastrophischen Geschichten oder Verfallsgeschichten, sondern Kostenrechnungen, negative Geschichten, die einen Schockeffekt haben und beim Leser eine »zersetzende Reflexion auf das eigene Gewordensein durch Texte, die vom Werden des Selbst durch Macht erzählen« (Saar 2009: 261), mobilisieren sollen. Womit schon ein weiteres Charakteristikum genealogischer Texte angedeutet ist, ihr rhetorischer Charakter, der nicht im Wahrheitsgehalt des Textes aufgeht. Genealogien übertreiben, sie sind eine Kunst der Übertreibung und haben einen »hyperbolischen Charakter« (Saar 2003: 173).
Die Geschichte unter dem Gesichtspunkt von Machtverhältnissen zu betrachten, ist natürlich ein selektiver Gesichtspunkt. Macht ist auch ein »Erkenntnisraster« (Foucault 1976: 114), um bestimmte Machttechniken und Machttypen zu Gesicht zu bringen, die jeweils bestimmte Subjektivitätsformen produzieren, und gesellschaftliche Verhältnisse unter dem Gesichtspunkt der Kontingenz als Andersmöglichkeit zu betrachten. Und diese Geschichte hat daher natürlich gewisse Voraussetzungen und Grundannahmen, wie z. B. dass sich Subjektivität in ganz konkreten Praktiken und bezogen auf bestimmte Wissensweisen konstituiert (Saar 2009: 251).

[1] Vgl. für das Folgende Unterthurner (2016), 160-164
[2] Wie er schon zur Zeit der Archäologie des Wissens formulierte: »Ich versuche nun nicht, den Anfang [commencement] im Sinne des ersten Ursprungs [origine première], der Grundlegung, von der aus alles Weitere möglich wird, zu untersuchen. Ich bin nicht auf der Suche nach dem feierlichen ersten Augenblick, von dem ab beispielsweise die gesamte abendländische Mathematik möglich gewesen ist. Ich gehe nicht zu Euklid oder Pythagoras zurück. Es sind stets relative Anfänge [commencements relatifs], die ich erforsche, eher Einführungen oder Transformationen als Fundamente und Grundlegungen« (Foucault 1969: 981). Vgl. zur Abgrenzung von Husserl und Heidegger: Foucault (1972: 464 f.).

Literatur
Foucault, Michel (1969): »Michel Foucault erklärt sein jüngstes Buch«. In: Michel Foucault, Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band 1. 1954–1969 (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001), 980-991.
Foucault, Michel (1971): »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«. In: Michel Foucault, Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band 2. 1970–1975 (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2002), 166–190.
Foucault, Michel (1972): »Die Probleme der Kultur. Eine Debatte zwischen Foucault und Petri«. In: Michel Foucault, Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band 2. 1970–1975 (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2002), 461-474.
Foucault, Michel (1976): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1 (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977).
Foucault, Michel (1974): »Die Wahrheit und die juristischen Formen«. In: Michel Foucault, Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band 2. 1970–1975 (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2002), 669–792.
Gamm, Gerhard (1985): »Die Erfahrung der Differenz. Zur Interpretation der Genealogie der Moral«. In: Philipp Rippel (Hg.), Der Sturz der Idole. Nietzsches Umwertung von Kultur und Subjekt (Tübingen: edition discord), 123–164.
Geuss, Raymond (2002): »Kritik, Aufklärung, Genealogie«. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 50, 2, 273–281.
Liebsch, Burkhard (1996): »Probleme einer genealogischen Kritik der Erinnerung. Anmerkungen zu Hegel, Nietzsche und Foucault«. In: Hegel-Studien, 31, 113–141.
Marquard, Odo (1974): »Genealogie«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 3 (Basel, Darmstadt: Schwabe), 268–269.
Saar, Martin (2003): »Genealogie und Intersubjektivität«. In: Axel Honneth, Martin Saar (Hg.), Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-konferenz 2001 (Frankfurt/M.: Suhrkamp), 157–177.
Saar, Martin (2007): Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault (Frankfurt/M.: Campus).
Saar, Martin (2009): »Genalogische Kritik«. In: Rahel Jaeggi, Tilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik? (Frankfurt/M.: Suhrkamp), 221–246.
Unterthurner, Gerhard (2016): Eine Genealogie europäischer Rationalitätsformen – Anmerkungen zur Biomacht nach Foucault, in:Gerhard Unterthurner / Erik M. Vogt (Hg.) (2016): Bruchlinien Europas. Philosophische Erkundungen bei Badiou, Adorno, Zizek und anderen. Wien, turia+kant, 157-188.

One Reply to “Genealogie”

  1. Für mich stellen sich in unserem Kontext mehrere Fragen dazu:

    1) Schwarz-Weiß: Was ist dazwischen? Dient genealogisches Forschen ausschließlich der Dekonstruktion?

    2) Falls 1) bei Foucault mit “Ja” zu beantworten ist, wie kann das Konstruktive der Geschichte im Sinne der Beschreibung der gegebenen Bedingungen des Werdens mit Foucault gefasst werden?

    3) Wäre genealogisches Denken im psychoanalytischen Kontext vor allem durch ein Interesse an (familialen) Machtstrategien gekennzeichnet?

    4) Lässt sich eine Verbindung von Foucaults Konzept der Genealogie zum Tychischen (dem Zufallsbedingten) bei Lacan herstellen?

    5) Zur Verknüpfung mit Lacan mit Blick auf Vorarbeiten: Copjec stellt Lacans Wendung von der Struktur zum Realen Foucaults Historizismus entgegen (vgl. Copjec 1999: Strukturen gehen nicht auf die Straße, in Riss 45/II, 11-27 = erstes Kapitel von Read my Desire). Ihr Vorwurf an Foucault lautet: … der von ihm kultivierte Historizismus trägt Schuld daran, die Nester eines leeren, unartikulierbaren Begehrens auszutilgen, die die Last des Beweises einer Externalität der Gesellschaft sich selbst gegenüber tragen” (ebd., 26).
    Was ist von Foucault aus dazu zu sagen?

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